1812. Napoleons Feldzug nach Rußland.
Veranlassung.
Nachdem Napoleon im Jahre 1809 auch die Österreicher besiegt hatte, stand er auf dem Gipfel seiner Macht. Er war Herr über 90 Millionen Menschen. Ganz Europa mit Ausnahme von England und Rußland war bezwungen. Weil er England nicht angreifen konnte, wollte er durch die Festlandsperre den englischen Handel vernichten. Alle europäischen Häfen mußten den englischen Waren verschlossen werden. Zu Alexander von Rußland stellte sich Napoleon zuerst freundlich. Als der Zar sich aber der Festlandsperre nicht mehr fügen wollte, weil sie seinem Lande großen Schaden brachte, beschloß Napoleon, die Macht Rußlands zu brechen.
Zug gegen Moskau.
Im Sommer 1812 zog Napoleon mit mehr als 600.000 Mann – darunter 1/3 Deutsche – nach Osten. Auch Bayern mußte ein Hilfsheer von 30.000 Soldaten stellen.
Er nahm seine Richtung nach Moskau. Nach sieben Wochen erreichte das Heer endlich Smolensk; dort hoffte es sich von den Strapazen zu erholen. Aber die Russen hielten die Stadt besetzt. Zwei Tage lang verteidigten sie den Ort – dann zogen sie ab. Die Stadt aber ging in Flammen auf, und am nächsten Morgen fand Napoleon anstelle der Stadt nur einen Aschehaufen vor. Mühsam ging der Zug vorwärts. Bei Borodin, 100 km diesseits Moskau, stellten sich die Russen abermals zu Wehr. Napoleon siegte; die Russen zogen sich zurück und überließen ihre Hauptstadt Moskau dem Feinde.
Brand in Moskau.
Der Anblick dieser schönen Stadt erfüllte das ermattete Heer mit neuem Mute; dort gab es ja reiche Beute und Speise und Trank im Überfluß. Aber sonderbar! Die Straßen waren menschenleer, die Fenster der Paläste verhangen. Die Einwohner waren mit ihrer besten Habe geflüchtet; nur etwa 12.000 Verbrecher, die man aus den Gefängnissen entlassen hatte, waren in der Stadt zurückgeblieben. Napoleon bezog den Kreml, seine Armee die leer stehenden Paläste. Aber schon in der ersten Nacht brach an einzelnen Stellen Feuer aus, ebenso in der folgenden, und bald stand die ganze Stadt in Flammen. Die Russen selbst hatten das Feuer angelegt. Nun mußten die Truppen Napoleons vor der Stadt ein Lager beziehen.
Rückzug.
In dieser bedrängten Lage bot Napoleon dem Kaiser Alexander den Frieden an. Dieser ließ ihm jedoch sagen: „Jetzt ist der Krieg nicht aus, jetzt soll er erst recht anfangen.“ So mußte sich denn Napoleon Mitte Oktober zum Rückzuge entschließen. Anfänglich war die Witterung noch längere Zeit milde, aber im Heere herrschte bereits die größte Unordnung, die vor allem durch die Zuchtlosigkeit und das liederliche Wesen der Soldaten hervorgerufen wurde. Ihren höchsten Grad erreichte aber die Not, als das Wetter umschlug und Mangel an Lebensmitteln sich einstellte. Im Dezember stieg die Kälte bis auf 35 Grad, und hoher Schnee bedeckte Weg und Steg. Die Soldaten hatten kein Brot und verzehrten die gefallenen Pferde mit Heißhunger. Ihre Schuhe und Stiefel waren zerrissen; die Füße wurden mit Lumpen umwickelt; viele hinkten oder gingen auf Krücken. Oft lagen am Morgen ganze Haufen tot um die erloschenen Wachtfeuer. Tag und Nacht umschwärmten Kosaken die Fliehenden, und Tausende fielen in ihre Hände.
Das Schrecklichste auf dem Rückzuge war der Übergang über die Beresina. Mit vieler Mühe baute man zwei Brücken über den Fluß, aber nur langsam konnte die Menschenmenge hinüber. Da am dritten Tage erschienen die Russen mit Kanonen und beschossen die Brücken.
Nun stürzte alles, was noch auf jener Seite war, auf die Brücken zu. Es entstand ein furchtbares Gedränge. Plötzlich brach die eine Brücke. Die Soldaten hinten wußten nichts davon und drängten die vorderen mit Gewalt in den Fluß hinein. Als man das Unglück entdeckte, stürzte der Menschenschwarm sich auf die andere Brücke. Wagen, Pferde und Menschen lagen hier über- und untereinander. Die nachfolgenden Truppen kletterten über die am Boden liegenden hinweg, und Tausende stürzten in den Fluß. Als Napoleon mit dem Hauptheere hinüber war, wurde die Brücke abgebrochen. Wer noch drüben war, fiel den Russen in die Hände.
Von der großen Armee erreichten nur etwa 30.000 Mann, halb erfroren und verhungert, die polnische Grenze. (Den im russischen Feldzug gefallenen Bayern ließ König Ludwig I. in München ein herrliches Denkmal errichten, einen 30 m hohen Obelisk aus dem Erze eroberter Kanonen, der die Inschrift trägt: „Auch sie starben für des Vaterlandes Befreiung“.)
General York.
Als der General York, der mit dem preußischen Hilfsheere in den Ostseeprovinzen stand, die Nachricht von dem schmählichen Ende des französischen Hauptheeres erfuhr, erfüllte Freude seine Brust. Nur mit Widerwillen hatte er für die Sache der Franzosen gekämpft. Jetzt hielt es ihn nicht länger. Am Weihnachtsabend trat er mit dem russischen General Diebitsch in Unterhandlungen, die damit endeten, daß York sich von den Franzosen trennte. Seine Offiziere jubelten ihm zu. Er zeigte dem Könige von Preußen seinen Entschluß an und schrieb dabei: „Eurer Majestät lege ich willig meinen Kopf zu Füßen, wenn ich gefehlt haben sollte. Ich würde mit der freudigen Beruhigung sterben, wenigstens nicht als treuer Untertan und wahrer Preuße gefehlt zu haben.” York wurde seines Kommandos entsetzt. Der Adjutant aber, der ihm diesen Befehl überbringen sollte, wurde von den Russen aufgefangen und festgehalten, und so blieb York auf seinem Posten. — Der König verlegte bald darauf seine Residenz nach Breslau.
Quelle: Bayerisches Realienbuch. Bearbeitet von Dr. Hans Reinlein, Oberlehrer in München Realienbuch Nr. 63, 171. bis 180. Gesamt-Auflage. Bielefeld und Leipzig 1915, Seite 111-112.