Nach H. Schmid u. K. Stieler.
Den westlichen Höhepunkt der oberbayrischen Alpen bildet der Wetterstein. Er ist der König im Westreich, wie der Watzmann im Osten, kein Haupt erhebt sich höher, keine Krone trägt reicheres Felsengezack als die seine. Hier hat die Natur eine wilde Arbeit getan, als sie diese Gipfel schuf. Hier sind die Berge trotziger und rauer als rings im Land, es ist eine Versammlung von Fürsten, jeder von ihnen heischte seinen Thron und sein Königsgebiet. Am höchsten aber ragt die Zugspitze hervor, die von dem übrigen Stock des Wettersteins fast völlig losgerissen ist. Zur Rechten rückt der Eibsee an ihre Wände heran, zur Linken hat sich die Isar den Weg gebahnt und bricht durch ein schmales Tal ins Flachland. Eine Welt von unnahbarer Wildheit liegt in diesen Felsen, meilenweite Wüsten erstrecken sich durch das Gestein, kein Baum und keine Pflanze; urweltlich groß ist diese Einsamkeit. Drunten aber ist das Gefilde weithin eben und die heiße Sonne wirft ihren Strahl auf die hohen Wiesen und das goldene Ährenfeld.
Dicht an der Zugspitze liegt Partenkirchen, das schon die Römer auf ihrem Wege ins deutsche Land erbaut haben; ihr Lager stand hier und ihre Herden weideten vor demselben. Auch später, als diese Zeiten längst verwichen waren, führte die Straße aus Italien ins Reich hier vorüber und zahlreiche Handelskarawanen zogen im Mittelalter des Wegs. — Das heutige Völkchen in diesen Gauen ist freilich von anderem Schlag, gleichweit entfernt vom kriegerischen Geist der Römer, wie von dem Reichtum der alten Städtebürger. Nur wenige Gestalten zeigen den kräftigen Bau und die kühne Stirn des Hochländers, und wie ihrer äußeren Erscheinung das Schöne, so fehlt ihrem Wesen jener freie und herrschende Zug, welcher den Bergvölkern einen natürlichen Adel verleiht. Es herrscht mehr Hang zum Stillsitzen als zum Herumschweifen, mehr Sinn für gewerblichen Fleiß als für Hirten- und Jägerleben. Natürlich finden sich auch solche Gestalten, die das Herkulische der Bergnatur an sich tragen; im Allgemeinen gehören diese aber zu den Seltenheiten. Alle Wildheit hat die Natur an die Landschaft verschwendet. — In der guten alten Zeit, da es noch der Mühe wert war, ging das Schmuggelhandwerk sehr lebhaft in diesen Bergen. Auf dem schmalen Pfade, der am Abgrunde hinführt, kletterte der verwegene Schwärzer empor mit der zentnerschweren Last auf dem Rücken, den geladenen Stutzen in der Faust. An den vornüberhängenden Felsen kroch er vorüber, das zerbröckelte Gestein rollte unter seinem Fuß, es war ein beständiges Wandeln zwischen Tod und Leben. Wo die Pfade gangbar werden, trug ein Saumpferd die versteckten Waren, und unter mancher Ladung, die scheinbar von der Alm herunterkam, waren fremde Kostbarkeiten eingeschmuggelt, die dann in den Felsen versteckt und zur Nachtzeit weiter befördert wurden.
Nicht weit von Partenkirchen liegt Garmisch. Zahllose Ausflüge von ungemeiner Pracht bieten sich dem Fremden dar, die während der Sommermonate in beiden Orten Quartier nehmen. Da ist das Forsthaus von Graseck, die Partnachklam, das Rainthal und der Bauer am Eck, der den höchsten, ständig bewohnten Hof in Bayern besitzt. Dringt man noch tiefer ins Rainthal vor, so liegt die blaue Gumpe vor uns, ein enger See, zu dem sich die Partnach aufstaut, ein Smaragd in Felsen gefaßt.
Die Besteigung der Zugspitze selbst ist bedeutend erleichtert worden, seitdem eine Münchener Familie mitten im Steingeröll am Beginn des sogenannten „Plattert“ die Knorrhütte hat errichten lassen. Neben der Lagerstätte enthält sie einen kleinen Herd, dem ein Würzburger Professor einen eisernen Ofen beigestellt hatte. Daß ein jeder das Holz, dessen er bedarf, selber mitbringen muß, liegt auf platter Hand, da hier oben die Natur nicht mit Buchenscheiten zu Markte sitzt; doch ist es jedermann unbenommen, auch die hölzerne Thür der Hütte als solches zu betrachten. Über Sommer liegt sogar ein Fremdenbuch in dem Gemach. Neben der Hütte sprudelt ein Quell hervor, der sich zu allen landesüblichen Diensten verwenden läßt.
Der Gipfel der Zugspitze trägt ein eisernes Kreuz von 4 1/2 Meter Höhe und ist im Jahre 1820 zum ersten Male erstiegen worden. Die Fernsicht, die er eröffnet, reicht von Kärnten bis in die Schweiz, von der Donau bis an die italienische Grenze. Tief drinnen sehen wir den Einschnitt, den der Bernerpaß bildet, in langen, mauerhohen Reihen stehen die Tauernkette, das Stubai und die Ortler-Gruppe vor unsern Augen — Schnee, Schnee, unermeßliche Welten des Schnees! Darunter glitzert das heitere Land — jedes Haus ein schimmernder Punkt, jeder See ein blanker Spiegel, jeder Fluß ein silberner Faden!
Es gibt in Partenkirchen noch ein anderes Ziel, das in der Tiefe liegt, und wenn es sich auch an Größe des Raumes mit jenem nicht vergleichen kann, so ist es ihm doch an Größe des Stils gewachsen. — Wir stehen vor himmelhohen Felsen, die senkrecht in die Tiefe stürzen, zerrissen, als ob die Verzweiflung sie geschaffen hätte. Traurige Tannen umklammern ihren Fuß, trümmerhaftes Gestein liegt ringsumher verschleudert — und dazwischen eine Flut so schmerzhaft tief, so unergründlich dunkel, als ob es keinen Lenz und keinen Segen mehr auf der Erde gäbe! Das sind die Ufer des Eibsees, den der Absturz des Wettersteins vor Jahrtausenden gebildet hat; aber noch heute steht die ungeheure Tat gleichsam versteinert vor unsern Blicken. Eine schauerliche Gestaltungskraft liegt über diesem Bilde, etwas furchtbar Verhängnisvolles liegt in dieser Landschaft; sie ist hoch wie der Himmel, tief wie die Hölle, uralt und steinern wie die Ewigkeit. Wer an diesen Wänden emporschaut, 3184 1/2 Meter hoch, dem ist, als seien finstere Geister hier in die Tiefe gestürzt, als stände er vor ihrem Kerker, mitten in ihrem Reich. Sie sind nicht vernichtet durch ihren Fall, denn der Geist ist unsterblich; sie leben noch und ihre Qual hat sich den Felsen aufgeprägt. Wenn der Wind in den fernen Schluchten tost, dann stöhnen sie, dann bebt eine stumme Erschütterung durch den Abgrund des Sees.
Der Eibsee ist die Hölle der Natur — etwas großartig Schauerliches liegt in dieser Flut. Nur wenige morsche Häuser stehen am Rande des schwarzen Gewässers, und die Bewohner derselben sind nicht minder herabgekommen als ihr düsteres Gemäuer. Zwischen dem spärlichen Gras klettern die Ziegen umher und nagen an dem struppigen Gesträuch, welches zwischen den Felsblöcken wuchert. Wenn die Fremden im Sommer hierher kommen, dann nehmen sie in diesen Häusern einen Fährmann, um auf die zahlreichen Inselblöcke hinüberzusetzen. Halbnackte Kinder kommen dann gelaufen mit Erdbeeren und Alpenrosen und nehmen die ihnen gereichten Gaben entgegen. Wie ärmlich, wie winzig ist das Treiben dieser Gestalten neben den Kolossalgestalten der Natur; wie anders ist das Herz des dunkeln Sees umnachtet, als das Herz dieser Menschen! Wie erhaben ist sein Kummer und jener wie kümmerlich! Mit vergnügten, hellen Augen schauen die Fremden in die unglückliche schwarze Tiefe und fühlen nicht, daß hier Welten übereinander krachten, sondern schießen eine Pistole los, um am Krachen des Echos künstlich zu erschrecken. Aber aus den grollenden Stimmen des Echos hallt es zurück, als riefen die Geister des Berges aus der Tiefe: — spielt nicht mit unserm Schicksal! Jedoch die Menschen sind klein, sie haben für das Große keine Ehrfurcht und für das Wunder nichts als Neugier!
Geographische Bilder. Darstellung des Wichtigsten und Interessantesten aus der Länder- und Völkerkunde. Nach den besten Quellen bearbeitet und herausgegeben für Lehrer und Lernende, sowie für Freunde der Erdkunde von U. Mauer. Erster Band. Vierzehnte Auflage. Langensalza, Schulbuchhandlung von F. G. L. Greßler. 1889. Seite 241-243.