Frei nach Dr. Hans Reinlein.

Wendungen und Wandlungen im deutschen Norden.

Preußen.

In der Zeit, in der Bayern unter seinen ersten Königen einen glücklichen Aufschwung nahm, vollzogen sich bedeutsame Wandlungen auch in dem Staate, der der wichtigste Träger deutscher Entwicklung werden solle: in Preußen.

Verfassungsfrage.

Während Bayern schon im Jahre 1818 eine Freiheitliche Verfassung erhalten hatte, die das Volk zur Teilnahme an der Gesetzgebung des Landes aufrief, regierten die Fürsten in den meisten europäischen Ländern traditionell ohne Beteiligung des Volkes. Sie erließen Gesetze zur Förderung des allgemeinen Wohls und erhoben die Steuern um die Staatslasten zu finanzieren.

Auch in Preußen war das der Fall. Nachdem aber das Volk in den Freiheitskriegen sein Blut für das Vaterland vergossen hatte, entwickelte sich der Wunsch nach mehr Anteilnahme. Vor allem wünschte es, durch selbstgewählte Vertreter bei Beratung der Gesetze sowie bei Feststellung der Steuern seinen Willen zum Ausdruck zu bringen (beschränkte Monarchie.) Schon Friedrich Wilhelm III. hatte dem Volke die gewünschte Verfassung in Aussicht gestellt. Sein Sohn Friedrich Wilhelm IV. wollte anfangs von einer solchen nichts wissen, da er zurecht fürchtete, durch die Einrichtung einer Volksvertretung die Staatsmacht zu schmälern. Im Februar 1848 war in Frankreich wiederum eine Revolution ausgebrochen. Man hatte den König verjagt und eine Republik errichtet. Die Nachricht davon zündete auch in Deutschland. Die Unzufriedenheit war auch hier überall groß. König Friedrich Wilhelm IV. erließ am 18. März eine Bekanntmachung, worin er dem Volke eine freiheitliche Verfassung versprach.

Bewaffneter Kampf.

Als er am Nachmittage vom Balkon des Schlosses herab selbst seinen Entschluß verkündete, da schwenkte das Volk auf dem Schloßplatze die Hüte und rief ihm brausende Hurras entgegen. Während dann aber das Militär die zu weit Vordringenden zurückhalten wollte, fielen plötzlich zwei Schüsse. Niemand wußte, woher sie gekommen waren. Es war auch keiner getroffen worden. „Wir sind verraten!” schrie das Volk und griff zu den Waffen. In wenigen Stunden waren alle Straßen durch Barrikaden gesperrt und Häuser und Fenster mit Bewaffneten besetzt. Nun folgte ein blutiger Straßenkampf, der die ganze Nacht andauerte. Von diesem Blutbade aufs tiefste bewegt, gab der König Befehl zum Abzuge des Militärs und willigte in die Errichtung einer Bürgerwehr.

Während dieser bewegten Zeit stockte Handel und Wandel. Die wohlhabenden Familien verließen Berlin, die Armen aber litten Not; denn es fehlte an Verdienst. Erst allmählich wurde die Ruhe in Berlin wieder hergestellt. Das Vertrauen zwischen dem König und seinem Volke kehrte zurück, und 1850 erhielt auch Preußen seine Verfassung, die noch heute im großen und ganzen zu Recht besteht und die im wesentlichen dieselben Grundzüge aufweist wie die Staatsverfassung, die König Maximilian I. von Bayern schon mehr als drei Jahrzehnte vorher seinem Volke gegeben hatte.

Ablehnung der Kaiserwürde.

Neben dem Wunsche einer freieren Verfassung hatte das Volke ein immer dringenderes Verlangen nach der Einigung Deutschlands. Um die Angelegenheiten des Reiches zu regeln, wurden im Jahre 1848 Abgeordnete nach Frankfurt a.M. geschickt. Es war nun die Frage, ob Österreich oder Preußen die Führerschaft und damit die Kaisergewalt erhalten sollte. Die Mehrzahl der Abgeordneten entschied sich für Preußen, da dieses ein rein deutsches Land sei und von jeher das Wohl Deutschlands als sein Wohl angesehen habe. Als aber die Abgesandten in Berlin erschienen und dem Könige die Kaiserkrone anboten, lehnte er sie ab. Die Einigung Deutschlands war damit vorläufig gescheitert.

Preußens wirtschaftliche Entwicklung.

Handel und Gewerbe nahmen um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch im deutschen Norden einen ungeahnten Aufschwung. Dazu trug besonders die Vermehrung der Eisenbahnen und Telegraphen bei. Die Fabriktätigkeit war besonders groß in Webereien und Eisenwaren. So wurde Elberfeld-Barmen ein zweites Manchester, Solingen ein zweites Lüttich. In Berlin erwarb sich Borsigs Maschinenfabrik, in Essen Krupps Geschützfabrik, Weltruf. Preußens Ausfuhr an Erzeugnissen des Bergbaus und der Industrie wuchs gewaltig an und legte den Gedanken erhöhten Schutzes nahe. Zur Bildung einer Kriegsflotte kaufte deshalb Preußen den Jadebusen, wo der starke Kriegshafen Wilhelmshaven entstand.

Quelle: Bayerisches Realienbuch. Hans Reinlein. Seiten 123-142.