Eine Erzählung aus dem Jahr 1879.
Wer in Bayern gewesen ist, als König Maximilian I. Joseph das Land regierte oder jetzt noch dahin kommt, der wird von diesem Könige vieles vernehmen, worüber er sich freuen kann. Er war aber auch recht die Freude und der Hort seiner Untertanen, und diese liebten ihn, wie Kinder ihren Vater lieben. Auch war er jedem zugänglich, und wer mit Tränen des Kummers bei ihm eintrat, der kam mit Tränen der Dankbarkeit von ihm heraus; denn auch wo er mit Taten nicht helfen konnte, half er mit tröstenden Worten, die von dem Munde eines Königs noch besser zu Herzen gehen als von anderen. Schon ehe er hoffen konnte, König von Bayern zu werden, galt Maximilian für den besten Mann im Lande und gewann die Herzen aller, die ihm nahekamen.
Ein treues Herz.
Was aber gar oft geschieht, daß, wenn Stand, Macht und Reichtum wächst, das Herz sich zusammenzieht, und wenn der äußere Mensch sich erhebt, der innere niedersinkt: Das widerfuhr dem guten Max Joseph nicht; sein Herz blieb, wie es gewesen war, ehe die Krone sein Haupt schmückte, und der Strom menschlicher Gefühle ergoß sich bei ihm noch reicher als zuvor unter dem königlichen Purpurmantel. Darum ist er nie in ein Haus getreten und nie in eine Stadt, ohne die Liebe der Bewohner zu gewinnen, und es war die Lust und der Stolz seines Volkes, ihm Zeichen der Liebe zu geben. Ich habe gesehen, wenn er von einer Reise oder sonst in die Hauptstadt zurückkam und der offene Wagen langsam durch das Gedränge fuhr, daß Männer und Weiber geringen Standes durch die jubelnde Menge brachen, um dem Könige die Hand zu reichen, und er keine zurückwies, wie hart sie auch war.
Mann des Volkes.
Gern mischte er sich unerkannt und unbegleitet unter das Landvolk und hörte auf die Reden der Leute und fragte sie aus; denn er wußte, daß er so die Wahrheit besser erführe als aus Zeitungen, die Lob und Tadel nach den Launen ihrer Abnehmer ausstreuen. Oft, wenn er einsam ging und ein bekanntes Gesicht von Weitem sah, rief er ihm ein freundliches Wort zu oder grüßte mit der Hand, und der Begrüßte fühlte sich geehrt und erzählte es den seinigen wieder. Auch das erfreute alle Herzen, daß er ein so guter und liebevoller Hausvater war, seine Kinder immer gern um sich hatte und so häufig an der Seite seiner Gemahlin auf einsamen Spaziergängen in vertraulichem Gespräche gesehen wurde.
Sein Ausgang aus dem Leben war, wie er ihn selbst gewünscht hatte. Nur eine leise Ahnung von Unwohlsein ging voraus; aber niemand war besorgt, so wenig als er selbst; kein Arzt ward gerufen; kein Diener wachte bei ihm. Am Morgen des 13. Oktober 1825, da er nicht zur gewöhnlichen Frühzeit aufstand und der Diener ungerufen in das Schlafzimmer trat, fand er ihn tot in derselben Lage, die er beim Niederlegen genommen hatte, ohne ein Zeichen des Schmerzes auf seinem Angesichte. Schlummernd war er durch die dunkle Pforte des Todes gegangen. Die Bestürzung des Volkes war groß, die Trauer allgemein. Es war die Wehklage verwaister Kinder um einen geliebten Vater – ein aufrichtiger Schmerz tiefer Liebe; und jede der zahllosen Tränen, die aus vollen Herzen um ihn flossen, war ein Opfer der Dankbarkeit und ein stummes Lob des unvergeßlichen Königs.
Nach seinem Tod.
Einige Zeit nach seinem Tod wurde neben vielen anderen Dingen auch die Menagerie verkauft, die er in Nymphenburg gehalten hatte: viele seltene Tiere mannigfaltiger Art, auch überseeische Papageien und Stare. Von den Letztern waren schon alle verkauft; nur einer war noch übrig, der Letzte und von unscheinbarem Äußern. Still und mit struppigem Gefieder saß er auf der Stange, als ob er sich noch über den Tod seines Herrn betrübte, wie etwa ein alter Diener, wenn nach dem Tode seiner Herrschaft das Hausgerät fortgeschafft wird, unter dem er alt und grau geworden war, stumm umhergeht und sich grämt, daß er das alles überlebt. Als nun der alte, unscheinbare Vogel unter den Hammer kam, bot niemand darauf, und nachdem ihn der Ausrufer drei- oder viermal angeboten hatte und alles schwieg, wurde der Käfig mit dem Staare in eine Ecke bei Seite gesetzt und wurden andere Dinge ausgerufen.
Auf einmal schallt es in der Ecke: „Max Joseph, Vater Max!“ Alle Köpfe wendeten sich um nach der Seite hin, woher der Ruf kam. „Wer ist’s? Wer ruft?“, fragten viele. Und einer, der dem Käfig zunächst stand, sagte: „Es ist der Star, der weggesetzt worden ist!“ Da riefen alle wie aus einem Munde: „Den Star, den Star her!“ So kam der unscheinbare Vogel mit einem Male zu Ehren, weil es eben jedem vorkam, als habe die treue Liebe, die er selbst im Herzen hegte, durch den Vogel eine Stimme bekommen.
„Vater Max“.
Der Star selbst aber, da alles um ihn her lebendig wurde und alle Anwesenden ihn liebkosten und lobten, wurde nun auch ganz munter und rief in einem fort: „Max Joseph! Vater Max!“ Nicht, wie man zu sagen pflegt, als ob er dafür bezahlt würde, sondern so recht aus vollem Herzen. Da wollte nun jeder den beredt gewordenen Vogel haben, und die Gebote jagten und überstiegen sich, so daß wohl nie ein Star so teuer bezahlt worden ist. Und der, welcher ihn endlich erhielt, meinte, einen Sieg gewonnen zu haben, und trug ihn im Triumphe nach Hause, und die andern beneideten ihn. Das war denn auch eine Leichenfeier von eigentümlicher Art und gewiß keine der schlechtesten.
Quelle: Deutsches Lesebuch. Zweiter Theil. Realienbuch. Seite 300 ff.