Das Staatsrecht des Deutschen Reiches
Erster Band
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Paul Laband
1895
Fünftes Kapitel.
Die Organisation der Reichsgewalt.
Erster Abschnitt.
Der Kaiser.
§ 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaisertums.
Die norddeutsche Bundesverfassung kannte den kaiserlichen Titel oder einen, ihm in staatsrechtlicher Beziehung entsprechenden nicht. Diejenigen Rechte, welche nach der jetzigen Verfassung kaiserliche sind, standen dem Oberhauptes des Norddeutschen Bundes unter drei Bezeichnungen zu. Die meisten derselben gehörten ihm als Präsidium des Bundes; insbesondere die völkerrechtliche Vertretung des Bundes, die Berufung, Eröffnung und Schließung des Bundesrates und Reichstages, die Ernennung des Bundeskanzlers, die Ausfertigung und Verkündigung der Bundesgesetze, die Ernennung und Entlassung der Bundesbeamten und die Oberaufsicht über alle Zweige der Bundesverwaltung. Der Bundesfeldherr dagegen hatte den Oberbefehl über die gesammte Bundesarmee, die Oberaufsicht über die Vollzähligkeit und Kriegstüchtigkeit aller Truppenteile, das Recht zur Inspektion derselben, die Bestimmung des Präsenzstandes und der Gliederung der Kontingente, die Befugnis, innerhalb des Bundesgebietes Festungen anzulegen und die Mitglieder der Bundesratsausschüsse für das Landheer und die Festungen und für das Seewesen zu ernennen. Ebenso stand ihm als Bundesfeldherrn das Recht zu, jeden Teil des Bundesgebietes in Kriegszustand zu erklären, sowie die Vollstreckung einer etwa erforderlichen Bundesexecution. Der König von Preußen endlich hatte den Oberbefehl über die Bundeskriegsmarine und die Bestimmung über Organisation und Zusammensetzung derselben.
Diese Dreiteilung war nicht zufällig oder lediglich Folge mangelhafter Fassung, sondern überlegt und beabsichtigt. Das „Bundespräsidium“ wird nach der Verfassung des Norddeutschen Bundes immer nur als die Spitze des Bundesrates und in engem Zusammenhang mit demselben gedacht; es ist in sehr vielen Fällen in seinen Handlungen von der Zustimmung des Bundesrates und Reichstages abhängig; die vom Bundespräsidium ernannten Beamten sind Bundesbeamte; alle vom Bundespräsidium erlassenen Anordnungen bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers. Die Rechte dagegen, welche das Bundesoberhaupt als Bundesfeldherr oder in seiner Eigenschaft als König von Preußen ausübt, erscheinen in weniger engem Zusammenhang mit der Bundesorganisation. Die Offiziere, Beamten und Mannschaften der Marine wurden nach der Norddeutschen Bundesverfassung nicht für den Bund, sondern „für Se. Majestät den König von Preußen“ vereidet; in den Fahneneid der Truppen wurde die Klausel aufgenommen, „den Befehlen des Bundesfeldherrn unbedingt Folge zu leisten“; für die Anordnungen des Bundesfeldherrn war nach der Verfassung des Norddeutschen Bundes das Erfordernis der Kontrasignatur des Bundeskanzlers nicht vorgeschrieben; die Geschäfte der Marine- und Heeresverwaltung ressortierten nicht vom Bundeskanzleramt. Eine einheitliche Bezeichnung für den Träger dieser Rechte hat erst das Norddeutsche Strafgesetzbuch Art. 80, 94, 95 eingeführt, welches ihn als „Bundesoberhaupt“ bezeichnet und zu den in der Verfassung begründeten staatsrechtlichen Befugnissen desselben einen ausgezeichneten strafrechtlichen Schutz gegen Beleidigungen hinzufügte.
Bei Feststellung der Verträge mit den süddeutschen Staaten ist die oben berührte Dreiteilung nicht verschwunden; es ist zunächst nur an einer Stelle der Kaisertitel eingefügt worden, nämlich in Art. 11, Abs. 1:
„ Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt.“
In der am 31. Dezember 1870 publizierten Verfassung des Deutschen Bundes ist zwar im Art. 19 der Ausdruck Bundesfeldherr durch den Ausdruck Bundespräsidium ersetzt, der Art. 53 aber erwähnt den „preußischen“ Oberbefehl über die Marine und bestimmt, daß die Organisation und Zusammensetzung derselben „Sr. Majestät dem Könige von Preußen“ zusteht, und in den Art. 62-68 erscheint der „Bundesfeldherr“ wie in der früheren Verfassung des Norddeutschen Bundes. Das Gleiche ist der Fall in der Württembergischen Militärkonvention, welche an keiner Stelle das Bundespräsidium erwähnt, sondern nur von „Sr. Majestät dem Könige von Preußen als Bundesfeldherrn“ oder dem „Bundesfeldherrn“ schlechthin spricht, und in dem Vertrage mit Bayern vom 23. November 1870 unter III, § 5, III, IV, der ebenfalls nur den Bundesfeldherrn in militärischen Angelegenheiten kennt.
Erst die jetzt geltende Redaktion der Reichsverfassung hat sowohl bei den Bestimmungen über die Marine als bei denjenigen über das Reichskriegswesen die Bezeichnung „Kaiser“ durchgeführt und damit die frühere Dreiteilung, oder falls man den König von Preußen mit dem Bundesfeldherrn für ganz identisch halten will, die frühere Zweitheilung der dem Bundesoberhaupt zustehenden Befugnisse formell beseitigt. Auch in der Redaktion des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich ist die Stelle des Bundesoberhauptes der Kaiser getreten.
Die jetzige Reichsverfassung hat in den Artikeln 5, Abs. 2; 7; Abs. 2 und 3; 8, Abs. 2, und 37 den Ausdruck „Präsidium“ beibehalten; sonst durchweg den Ausdruck „Kaiser“ an die Stelle gesetzt. Daß beide Ausdrücke sachlich ganz dasselbe bedeuten, ergibt sich aus der oben erwähnten Fassung des Art. 11, Abs. 1. Noch bestimmter und klarer ist dies ausgesprochen in dem Schreiben des Königs von Bayern an den König von Preußen, durch welches die Anregung zur Wiederherstellung des Kaisertitels gegeben wurde. In demselben heißt es:
„Ich habe Mich daher an die deutschen Fürsten mit dem Vorschlage gewendet, gemeinschaftlich mit Mir bei Eurer Majestät in Anregung zu bringen, daß die Ausübung der Präsidialrechte des Bundes mit Führung des Titels eines Deutschen Kaisers verbunden werde“.
Nach der ausdrücklichen Angabe der Motive, mit denen die neue Redaktion dem Reichstage vorgelegt wurde, sind „materielle Änderungen des bestehenden Verfassungsrechts nicht beabsichtigt worden“ und bei den Beratungen des Reichstages ist die gleiche Intention vom Abgeordneten Lasker und dem Fürsten Bismarck sehr bestimmt betont worden. Die Bestimmung des Art. 17, daß die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers im Namen des Reiches erlassen werden und zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers bedürfen, erstreckt sich ihrem Wortlaute nach allerdings auch diejenigen Anordnungen des Kaisers, welche sich auf die Marine beziehen oder welchen ach der früheren Verfassung nicht dem Bundespräsidium, sondern dem Bundesfeldherrn zustanden, aber dadurch sollte nicht das Erfordernis der Gegenzeichnung für Armee- und Marinebefehle, für welche es zuvor nicht bestanden hatte, eingeführt werden. Siehe Bd. II, § 97. Im Übrigen sind alle Anordnungen, welche in der norddeutschen Bundesverfassung und den zu ihrer Durchführung erlassenen Gesetzen das Bundespräsidium betrafen, nunmehr auf den gesamten Kreis der kaiserlichen Rechte und Pflichten ausgedehnt und verallgemeinert worden.
Aber das ist festzuhalten, daß eine neue staatsrechtliche Institution durch die Wiederherstellung der Kaiserwürde nicht geschaffen worden ist. Der Begriff des Bundespräsidiums ist durch die Verknüpfung desselben mit dem Kaisertitel nicht verändert worden. Aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Wiederausrichtung des Kaisertitels führten, aus den Motiven und Erklärungen, mit denen die Vorlage der jetzigen Verfassungsredaktion und deren Beratung begleitet wurde, und vor Allem aus dem Art. 11 der Reichsverfassung selbst, ergibt sich mit unzweifelhafter Gewissheit daß das Kaisertum ganz und vollkommen identisch ist mit dem Bundespräsidium, und daß es, abgesehen von dem Titel und den demselben entsprechenden Insignien, keine Rechte enthält als die Präsidialrechte.
Die Feststellung der staatsrechtlichen Natur des Kaisertums ist nicht ohne Schwierigkeiten, da ein aus Monarchien zusammengesetzter Bundesstaat ohne Vorgang in der Geschichte ist. Aus dem Umstand, daß der Kaisertitel bisher nur zur Bezeichnung des Monarchenrechts verwendet worden ist, können Schlüsse nicht gezogen werden, da der Art. 11 der Reichsverfassung ausdrücklich dem Kaiser nicht die Souveränität des Reiches, sondern das Präsidium des Bundes beilegt. Es kann vielmehr dieser Begriff nur aus der Natur des Reiches als eines Bundesstaates gefunden werden.
Es ergeben sich sofort zwei Sätze negativen Inhalts.
1. Der Kaiser ist nicht Monarch des Reiches, d. h. Souverän desselben; die Reichsgewalt steht nicht ihm, sondern der Gesamtheit der Deutschen Bundesfürsten und freien Städte, also einem von ihm begrifflich verschiedenen Subjekt zu; wo er für das Reich Willenserklärungen abgibt oder Handlungen vornimmt, handelt er nicht im eigenen Namen, sondern im Namen des Reiches; wo dem Reichstage gegenüber das Subjekt der Reichsgewalt in Betracht kommt, also in dem staatsrechtlichen Verhältnis der Organe des Reiches zu einander, handelt er im Namen der verbündeten Regierungen.
2. Der Kaiser ist nicht Präsident in dem Sinne, wie dies Wort in demokratischen Staaten genommen wird, d. h. Beamter des Reiches. Er wird nicht von dem Souverän des Reiches ernannt, er ist nicht absetzbar, er ist nicht verantwortlich; er ist Niemandes Unterthan; er hat die Präsidialrechte kraft eigenen Rechtes.
Auch eine „Teilung der Zentralgewalt“ unter die Gesamtheit der Mitglieder und die Präsidialmacht, welche v. Martitz, Betrachtungen S. 48 annimmt, kann nicht zugegeben werden. Eine Teilung der Souveränität ist begrifflich unmöglich.
Man darf daraus, das der Kaiser weder Souverän noch Beamter des Reiches ist, nicht mit Held schließen, daß das deutsche Kaisertum etwas Unfertiges und Widerspruchvolles ist, noch mit v. Wohl ganz davon absehen, den Begriff des Kaisertums theoretisch festzustellen und zu konstruieren.
Diese Feststellung des Begriffes läßt sich gewinnen, wenn man die Tatsache im Auge behält, daß der Kaiser Mitglied des Reiches ist. Er kann nicht Beamter sein wie der Präsident einer Republik, weil er Mitsouverän ist, und er kann nicht Monarch sein, weil er nicht alleiniger Souverän ist. Aber er ist kein Mitglied des Reiches lediglich wie die übrigen Bundesfürsten, sondern ein bevorrechtetes, ein mit weitreichenden Sonderrechten ausgestattetes Mitglied. Das Recht auf das Bundespräsidium ist ein Sonderrecht des Königs von Preußen, nur daß es sich nicht auf die Kompetenz des Reiches gegenüber der Einzelstaatsgewalt bezieht, wie die süddeutschen Reservatrechte, sondern auf den Anteil an der Tätigkeit des Reiches selbst. Es ergeben sich hieraus eine Reihe der wichtigsten Rechtssätze, sowohl in Bezug auf das Subjekt als auf den Inhalt der kaiserlichen Rechte.
Vor Allem ist klar, daß die Stellung des Kaisers im Reiche durch die kaiserlichen Rechte allein gar nicht vollständig gegeben ist; sie finden ihre notwendige Ergänzung in den Mitgliedschaftsrechten Preußens. Nur wenn man die Mitgliedschaftsrechte, welche Preußen mit allen übrigen deutschen Staaten gemein hat, mit dem Sonderrecht, welches durch seine Präsidialbefugnisse gebildet wird, zusammen nimmt, erhält man die volle Summe der dem Kaiser zustehenden Rechte und ein vollständiges Bild der Stellung des Kaisers im Reiche. Denkt man sich Jemanden, der nicht zugleich Landesherr eines deutschen Staates, also nicht Mitglied des Reiches ist, ausgestattet mit allen kaiserlichen Rechten der Reichsverfassung und der auf Grund derselben erlassenen Gesetze, so hat man ein Zerrbild des Kaisers, das in die Reichsverfassung nach keiner Richtung passt.
Denkt man sich den Landesherrn eines der kleineren Staaten mit den Präsidialbefugnissen ausgestattet, so könnte man formell juristisch die von dem Kaiser geltenden Grundsätze auf ihn zwar anwenden, tatsächlich und politisch betrachtet wäre das Kaisertum aber etwas durchaus Verschiedenes von dem, was es wirklich ist. Nur dadurch, daß man die Präsidialbefugnisse in untrennbaren Zusammenhang bringt mit den der Krone Preußen zustehenden Mitgliedschaftsrechten, ja daß man das Recht auf die Ausübung dieser Präsidialbefugnisse als ein zu diesen Mitgliedschaftsrechten accessorisches Vorrecht (Sonderrecht) Preußens auffasst, gewinnt man den staatsrechtlichen Begriff des Kaisers. Wenn nach Art. 5, Abs. 2 und Art. 37 „die Stimme des Präsidiums“, nach Art. 7, Abs. 3 „die Präsidialstimme“ bei der Beschlussfassung des Bundesrats den Ausschlag gibt, wenn nach Art. 8 in jedem der dauernden Bundesratsausschüsse „das Präsidium“ vertreten sein muss, so ist „Präsidium“ und „Preußen“ hier völlig identisch; es ist bei der schärfsten logischen Unterscheidung unmöglich, einen begrifflichen Unterschied zwischen der siebenfachen Stimme Preußens und der Präsidialstimme aufzustellen oder sie im Gegensatz zu einander zu denken.
Die wichtige Konsequenz dieser Auffassung ist der Satz, daß die Ausübung der Mitgliedschaftsrechte Preußens und die Handhabung der kaiserlichen Präsidialbefugnisse unter keinen Umständen und in keinem Falle getrennt und an verschiedene Subjekte verteilt sein können.
Es ergibt sich ferner, in welchem Sinne der oft wiederholte Satz richtig ist, der Kaiser sei den Bundesfürsten nicht übergeordnet, sondern primus inter pares. Richtig ist dies nur hinsichtlich der Mitgliedschaftsrechte, die der Kaiser neben den Präsidialrechten hat; diese stehen allen deutschen Staaten prinzipiell gleichmäßig zu; in Beziehung auf sie sind die Bundesfürsten – von den Sonderrechten abgesehen – pares und der König von Preußen als Landesherr des hervorragendsten und größten dieser Mitgliedsstaate ist unter ihnen primus. Hinsichtlich der eigentlichen Kaiserrechte gibt es keine pares, weil es überhaupt nicht mehrere Berechtigte gibt. Die Präsidialrechte stehen nicht mehreren Bundesfürsten Kollektiv oder nach räumlich begrenzten Teilen des Bundesgebietes, sondern dem Könige von Preußen allein zu.
Man muss nun aber ferner unterscheiden zwischen dem Rechte auf die kaiserliche Stellung und dem Inhalt der letzteren selbst.
Ihrem Inhalte nach sind die Rechte des Kaisers nicht Rechte Preußens, sondern des Reiches. Der Kaiser übt als ein Organ des Reiches die dem letzteren zustehenden Souveränitätsrechte aus, soweit die Verfassung oder Gesetze des Reiches ihn dazu berufen. Da die einzelnen deutschen Staaten und ihre Landesherren der Souveränität des Reiches untergeordnet sind, so sind sie auch dem Kaiser, als dem verfassungsmäßigen Willensorgan des Reiches, untergeordnet; zwar nicht dem Kaiser als physischer Person; wirksam wird diese Unterordnung aber gegenüber dem Kaiser insofern, als er einen bedeutenden Teil der dem Reiche zustehenden staatlichen Hoheitsrechte handhabt und verwaltet.
Hieraus und aus dem oben entwickelten Begriff des Bundesstaates folgt weiter, daß der Kaiser nicht Kollektivmandatar der einzelnen deutschen Bundesfürsten oder Bundesstaaten ist. Er leitet seine Machtbefugnisse und Hoheitsrechte nicht ab von den Bundesgliedern, welche als Einzelne unter der Souveränität des Reiches stehen, sondern von dem Reiche selbst, welches eine souveräne Gewalt über den Bundesstaaten ist. Sind auch die Bundesglieder in ihrer Gesamtheit Subjekt der Reichsgewalt, so sind sie doch als Einzelne Unterthanen der Reichsgewalt, während der Kaiser das Organ derselben ist. Und zwar ist der Kaiser der einzige Bundesfürst, welcher individuell einen Anteil an der Regierung des Reiches hat. Alle übrigen Bundesfürsten haben als Einzelne keinerlei Funktionen an der Lebenstätigkeit des Reiches auszuüben, sondern nur als Gesamtheit durch das Instrument des Bundesrats. Der Kaiser ist das einzige Bundesmitglied, welche zugleich Organ der Reichsgewalt ist.
Es folgt endlich hieraus, daß zwar das Recht auf die Kaiserwürde ein Sonderrecht Preußens ist, die einzelnen Präsidialbefugnisse selbst dagegen nicht unter den Begriff der Sonderrechte eines Mitgliedes fallen. Vielmehr bilden die Präsidialbefugnisse einen Teil der Organisation, welchen die Reichsgewalt erhalten hat, und sind mithin nicht subjektive Rechte des preußischen Staates und seines Königs. Die Bezeichnungen „König von Preußen“ und „deutscher Kaiser“ beziehen sich zwar mit rechtlicher Notwendigkeit stets auf dieselbe Person, aber sie charakterisieren zwei verschiedene staatsrechtliche Stellungen derselben. Hinsichtlich der Ausübung und Handhabung der Präsidialbefugnisse kann demnach in keiner Beziehung das Staatsrecht der preußischen Monarchie, sondern lediglich das Reichsrecht Anwendung finden. Für die Beschränkung oder Aufhebung einzelner Präsidialbefugnisse durch ein Reichsgesetz ist der Satz, daß sie keine preußischen Sonderrechte sind, insofern die Präsidialbefugnisse in der Verfassungsurkunde selbst sanktioniert sind, praktisch unerheblich, da die Stimme Preußens immer in der Lage ist, eine Verfassungsänderung abzuwenden. Soweit aber durch einfache Reichsgesetze dem Kaiser Rechte beigelegt werden, ist es von Wichtigkeit, festzuhalten, daß die von den Sonderrechten einzelner Staaten geltenden Regeln auf dieselben nicht anwendbar sind.
§ 25. Das Subjekt der kaiserlichen Rechte.
Art. 11 der norddeutschen Bundesverfassung bestimmte: „Das Präsidium des Bundes steht der Krone Preußens zu“; in der jetzigen Reichsverfassung lautet der Satz: „Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu.“ Diese Fassungsänderung war notwendig wegen der Hinzufügung des Relativsatzes: „welcher den Namen deutscher Kaiser führt.“ Man hat in dieser Fassungsänderung auch eine materielle Änderung finden wollen, indem sie die Anwendung der preußischen Bestimmungen über Regentschaft auf das Reich ausschließen; diese Annahme ist jedoch bereits mehrfach widerlegt worden. „König von Preußen“ bedeutet genau dasselbe wie „Krone Preußen“, nämlich den Träger der preußischen Krone.
Aber auch abgesehen von dieser Frage der Wortinterpretation hat man die Anwendung der preußischen Verfassungsbestimmungen für den Fall der Nothwendigkeit einer Regentschaft aus sachlichen Gründen für unzulässig erklärt. v. Rönne, Staatsrecht des Deutschen Reiches I, § 26, S. 225 glaubt, „daß es nicht zulässig sein würde, wie die Art. 56 u. 57 der preußischen Verfassungsurkunde bestimmen, die beiden Häuser des preußischen Landtages zur Entscheidung über die Nothwendigkeit der Regentschaft für das Deutsche Reich zu berufen, und, wenn kein volljähriger Agnat vorhanden ist, den Regenten durch die beiden Häuser des preußischen Landtages erwählen zu lassen“. In weiterer Ausführung dieses Gedankens und sachlich ganz übereinstimmend äußert sich v. Wohl, Reichsstaatsrecht S. 284 fg..
Es liegt hier meines Ermessens eine vollständige Verkennung des im Art. 11 der Reichsverfassung ausgesprochenen Rechtsprinzips vor.
Das deutsche Kaisertum ist kein Recht, welches selbstständig, d. h. Unabhängig von der Krone Preußens erworben oder ausgeübt werden könnte; es ist ein Accessorium der preußischen Krone. Das Reichsrecht enthält daher auch über den Erwerb der Kaiserwürde keinen einzigen Rechtssatz und könnte keinen aufstellen, ohne den im Art. 11 der Reichsverfassung enthaltenen Rechtsgrundsatz für gewisse Eventualitäten zu beseitigen. Würde der Erwerb der Kaiserwürde irgend eine Voraussetzung mehr oder weniger oder anders haben als der Erwerb der preußischen Krone, so wäre die Möglichkeit gegeben, daß deutsches Kaisertum und preußisches Königtum auseinander fallen. Ihre dauernde verfassungsmäßige Vereinigung in demselben Subjekt ist nur möglich, wenn entweder das Reichsrecht positiv die Grundsätze über den Erwerb der Kaiserkrone regelt und bestimmt: „Wer Kaiser ist, ist zugleich ipso jure immer auch König von Preußen“; oder, wenn das Reich vollständig die gesammte Ordnung des Rechts auf die Krone dem preußischen Staatsrecht überlässt und sich auf den einfachen Rechtssatz beschränkt: Die Kaiserwürde folgt ipso jure der preußischen Königskrone. Daß das Letztere geschehen, der Erwerb des des preußischen Throns das prius, das Präsidium des Bundes das Accessorium ist, kann einem Zweifel nicht unterliegen.
In der Tat handelt es sich daher bei Anwendung des Art. 11 der Reichsverfassung gar nicht um eine Anwendung preußischer Verfassungssätze auf das Reich oder um eine Einwirkung preußischer Staatsorgane auf Reichsangelegenheiten. Diese Einwirkung ist eine faktische, keine rechtliche. Die Anordnungen der preußischen Verfassung über Thronfolgerecht und Regentschaft finden nur in Preußen Anwendung, der preußische Landtag und das preußische Staatsministerium handeln nur für Preußen. Die Einrichtung einer Regentschaft in Preußen ist eine ausschließlich preußische Staatsaction. Aber das Reichsrecht knüpft kraft eines objektiven Rechtssatzes, dessen Wirkung der Willensmacht des preußischen Landtages gänzlich entzogen ist und ebenso ohne jeden Willensakt und ohne jede Beschlussfassung, des Bundesrates und Reichstages eintritt, an die Erlangung der preußischen Krone die Folge des Erwerbes der Kaiserwürde an. Das rechtliche Interesse des Reiches ist auf den einen Punkt beschränkt, daß dieselbe Person die Rechte der preußischen Krone und die Präsidialbefugnisse ausübe; es erstreckt sich nicht auf die Normierung der Regeln, nach denen die preußische Krone erworben wird.
Diese Sätze werden unbestritten und unbezweifelt anerkannt hinsichtlich des eigentlichen Thronfolgerechts. Er ergibt sich namentlich aus ihnen die Konsequenz, daß eine Abänderung des preußischen Thronfolgerechts resp. der Hausgesetze des königlichen Hauses Hohenzollern nach Maßgabe des preußischen Staatsrechts erfolgen kann, und daß, wenn sie verfassungsgemäß in Preußen erfolgt ist, sie tatsächlich auch für die Succession in die Kaiserwürde entscheidend ist, ohne daß ein Reichsgesetz ihr Anerkennung und Bestätigung zu verleihen braucht. Das preußische Thronfolgerecht ist formell kein Reichsrecht.
Es ist nun durchaus nicht einzusehen, warum dieselben Grundsätze nicht vollständig zur Geltung kommen sollen, wenn eine Regentschaft in Preußen erforderlich wird. Die Präsidialbefugnisse haften nicht an dem Titel eines Königs von Preußen und sind nicht Rechte, welche dem Könige für seine Person, d. h. Unabhängig von seiner staatsrechtlichen Stellung in Preußen, zukommen. Das Recht auf die Kaiserwürde ist ein Recht der preußischen Krone; der König hat es in seiner Eigenschaft als Monarch des preußischen Staates. So wie der Staat Preußen eigentlich das Mitglied des Reiches, sein König nur der verfassungsmäßige Vertreter ist, so ist auch das Sonderrecht auf die Kaiserwürde im letzten Grunde ein Recht des preußischen Staates, zu dessen Geltendmachung und Ausübung der König von Preußen berufen ist.
Wenn also nach Grundsätzen des preußischen Staatsrechts der König durch einen Regenten vertreten werden muss, so ist der Vertreter berufen, ihn in allen Rechten und Pflichten der Krone zu vertreten und mithin auch die Präsidialstellung im Reiche einzunehmen. Der Titel des Kaisers wird allerdings demjenigen zukommen, welcher den Titel des Königs von Preußen führt und welchem quoad jus auch die preußische Krone zusteht; die Ausübung der preußischen Kronrechte aber ist unteilbar und deshalb erstreckt sie sich auch im Falle der Regentschaft notwendig auf das der preußischen Krone zustehende Präsidium des Bundes.
Damit ist dann aber von selbst die Folge gegeben, daß hinsichtlich der Fälle, in welchen eine Regentschaft eingerichtet werden muss, über das Recht zur Übernahme der Regentschaft, über die gesetzliche Fürsorge für den Fall, daß kein volljähriger Agnat vorhanden ist, über das eventuell eintretende Wahlrecht des Landtages, über die intermistische Führung der Regierung durch das Staatsministerium und über den Antritt der Regentschaft, einzig und allein die Bestimmungen der preußischen Verfassung (Art. 56-58) zur Anwendung kommen können. Die Einrichtung einer Regentschaft in Preußen ist für das Reich ganz ebenso wie ein Thronwechsel in Preußen, der durch Todesfall herbeigeführt wird, ein tatsächliches Ereignis, dessen Folgen es hinnehmen muss.
Auch in einer anderen Richtung hat eine Bestimmung der preußischen Verfassungsurkunde zu Bedenken hinsichtlich des Erwerbes der kaiserlichen Rechts Veranlassung gegeben. Im Art. 54 der preußischen Verfassungsurkunde wird nämlich dem Könige von Preußen die Ableistung eines Verfassungseides zur Pflicht gemacht. Hieraus folgert nun v. Rönne a. a. D. I, § 26, S. 225, „daß, so wie der Nachfolger in der preußischen Krone, wenn er es unterlassen oder sich ausdrücklich weigern sollte, der Verpflichtung des Abs. 2 des Art. 54 nachzukommen, rechtlich nicht befugt ist, die durch die preußische Verfassungsurkunde mit der preußischen Krone verbundenen Regierungsrechte auszuüben, derselbe auch rechtlich nicht die Befugnis hat, die durch die Verfassung des Deutschen Reiches nur dem jedesmaligen Inhaber der preußischen Krone übertragenen Regierungsrechte auszuüben.“ Übereinstimmend hiermit ist v. Mohl, Reichsstaatsrecht S. 284. Diese Folgerung für das Reichsrecht wäre richtig, wenn der von v. Rönne angenommene Satz des preußischen Staatsrechtes begründet wäre. In seinem Staatsrecht der preußischen Monarchie I, § 185 führt er aus, daß die Ableistung des Eides eine „Bedingung“ der Ausübung der verfassungsmäßigen Rechte des Königs sei und daß im Falle der Verweigerung des Verfassungseides die Regierung des Königs vorläufig eine rein tatsächliche, nicht aber eine rechtliche und verfassungsmäßige sei. Diese Auffassung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die preußische Verfassungsurkunde sie ausdrücklich bestätigen würde; da dieselbe aber über die Folgen der Verweigerung oder Verzögerung der Eidesleistung gar nichts bestimmt, so muss die von v. Rönne aufgestellte Theorie, weil sie mit den Grundsätzen des monarchischen Staatsrechts im Widerspruch steht, verworfen werden.
Der Erwerb der Krone erfolgt, wie allgemein anerkannt und auch von v. Rönne nicht bezweifelt wird, ipso jure im Augenblick der Erledigung des Thrones. Der Regierungsnachfolger wird daher König und zwar mit allen verfassungsmäßigen Rechten ausgestatteter König, bevor er nur die Möglichkeit hat, den Eid zu leisten. Er muss mit Nothwendigkeit vor Leistung des Eides Regierungshandlungen vornehmen, z. B. die Einberufung und Eröffnung des Landtages, in dessen Gegenwart er den Eid leisten soll. Er ist auch schon vor Leistung des Eides und ohne denselben staatsrechtlich zur unverbrüchlichen Beobachtung der Verfassung verpflichtet. Die Leistung des Eides ist eine verfassungsmäßige Pflicht des Königs; die Verzögerung oder Verweigerung der Eidesleistung eine Pflichtversäumnis, eine Verfassungsverletzung. Dieselbe ist aber mit keiner anderen Rechtsfolge bedroht als andere Verfassungsverletzungen seitens des Königs. Niemals hat eine solche die Rechtswirkung, daß der König mit Verlust der Krone bestraft werden könnte. Daraus läuft aber die Theorie v. Rönne’s hinaus. Denn der im Moment des Anfalls ipso jure vollendet Erwerb der Krone kann nicht rückwärts annulliert werden, sondern die Krone könnte nur, nachdem die Verweigerung oder ungebührliche Verzögerung der Eidesleistung vom Landtage konstatiert worden, dem Könige entzogen werden. Dies ist eine Theorie, welche das Wesen des Monarchenrechts verleugnet und in dem Prinzip der Volks- oder Parlamentssouveränität wurzelt.
Welche Mittel der preußische Landtag nach preußischem Staatsrecht hat, um Verfassungsverletzungen seitens des Königs zu verhindern, resp. die Ableistung des Verfassungseides zu erzwingen, kann hier unerörtert bleiben; es genügt, daß er in keinem Falle befugt ist, den König abzusetzen. Für das Reich ist dies allein von Bedeutung. Eine wirkliche oder angebliche Verletzung der preußischen Verfassung durch den König von Preußen ist eine innere Angelegenheit des preußischen Staates und dem Reiche gegenüber ohne Rechtswirkung. Der Art. 11 macht das Recht des Königs von Preußen auf das Präsidium des Reiches nicht von der Bedingung abhängig, daß derselbe die preußische Verfassung nicht verletze. Eine Einmischung in innere Angelegenheiten des preußischen Staates steht dem Reiche nicht zu, es sei denn, daß auf Grund des Art. 76, Abs. 2 der Reichsverfassung die Vermittlung oder Regelung einer preußischen Verfassungsstreitigkeit von Seiten des Reiches durch Anrufen eines Teiles herbeigeführt wird.
Was die materielle Normierung des preußischen Thronfolgerechts anlangt, so steht dieselbe im Einklang mit den gemeinrechtlichen Grundsätzen, welche in allen deutschen Fürstenhäusern zur Anwendung kommen.
§ 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte.
Die mit dem Präsidium des Bundes verknüpften Rechte sind teils persönliche oder Ehrenrechte, teils Regierungsrechte.
I. Persönliche Rechte.
Die Reichsverfassung ist mit der Ausstattung des Bundesoberhauptes mit persönlichen und Ehrenrechten sehr karg. Sie war aus zwei Gründen dazu veranlasst; erstens weil der an die Spitze des (Nordd. Bundes) Reiches berufene Bundesfürst als Monarch einer europäischen Großmacht bereits im Besitze aller Ehrenrechte sich befand, welche gekrönten Häuptern zukommen; und zweitens weil man die übrigen Bundesfürsten ihm gegenüber nicht zurücksetzen und die denselben gebührende persönliche Ehrenstellung von Souveränen nicht verletzen wollte. Die norddeutsche Bundesverfassung kannte überhaupt gar kein Ehrenrecht des Präsidiums; die Reichsverfassung kennt nur ein einziges, den Titel: deutscher Kaiser.
1. Dieser Titel hat einen anderen Charakter, als die sonst üblichen, aus früherer Zeit herstammenden Titel der Landesherren. Die letzteren beziehen sich auf den Besitz des Gebietes, sind Herrschaftstitel; sie sind ein Nachklang der patrimonialen oder feudalen, d. h. Der privatrechtlichen Auffassung des Staates. Der Landesherr wird in derselben Art bezeichnet, nur mit höherem Titel, wie der Privatbesitzer einer Standesherrschaft oder eines Ritterguts. Der Titel „deutscher Kaiser“ ist ein obrigkeitlicher Titel, er bezieht sich lediglich auf die staatsrechtliche Stellung seines Trägers; er ist seinem Wesen nach – im Gegensatz zu den ein Besitzrecht andeutenden Titulaturen – ein Amtstitel.
Äußerlich zeigt sich dieser Unterschied in der von der Regel abweichenden Form; der Titel heißt nicht „Kaiser von Deutschland“, sondern „deutscher Kaiser“; es fehlt die sachenrechtliche Beziehung auf ein Gebiet als Objekt. Wichtiger ist die materielle Verschiedenheit. Die sonst üblichen Titel der Souveräne werden von denselben, ebenso wie Namen, ganz allgemein, d. h. Für alle denkbaren Beziehungen und Verhältnisse geführt. Dagegen sollte nach dem Wortlaut des Briefes des Königs von Bayern, welcher die Annahme des Kaisertitels in Anregung brachte, „die Ausübung der Präsidialrechte des Bundes“ mit Führung des Titels eines deutschen Kaisers verbunden werden und in der Proklamation von Versailles vom 18. Januar 1871 erklärte der Kaiser bei Verkündigung der Annahme der Kaiserwürde:
„Demgemäß werden Wir und Unsere Nachfolger an der Krone Preußen fortan den kaiserlichen Titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reiches führen.“
Es ist demgemäß streng genommen und dem Charakter des kaiserlichen Titels als eines obrigkeitlichen entsprechend die Führung desselben beschränkt auf die Angelegenheiten des Reiches, auf die Ausübung der Präsidialbefugnisse, also auf diejenigen Fälle, in denen kaiserliche Funktionen verrichtet werden; dagegen ist er nicht anwendbar, wenn der Kaiser in seiner Eigenschaft als König von Preußen in Betracht kommt.
Tatsächlich wird dies zwar nicht durchweg beobachtet. Jeder Titel, auch der reine Amtstitel, dient nicht bloß zur Bezeichnung eines Kreises von Rechten und Pflichten, einer Stellung oder eines Wirkungskreises, sondern seine Führung ist ein persönliches Ehrenrecht. Darauf beruht der allgemeine Gebraucht, daß man Titel zur individualisierenden Bezeichnung einer bestimmten Person verwendet, ohne die sachliche Bedeutung des Titels in Betracht zu ziehen. Ebenso wie man einem Beamten seinen Amtstitel auch in allen nichtamtlichen Verhältnissen und Beziehungen beilegt, lediglich als ehrende Bezeichnung seiner Person, so wird auch der kaiserliche Titel ganz allgemein zur Bezeichnung seines Trägers angewendet, wenngleich derselbe nicht in seiner Eigenschaft als Oberhaupt des Reiches in Betracht kommt.
Die Natur des kaiserlichen Titels zeigt sich aber darin, daß neben demselben Titel des Königs von Preußen nicht außer Anwendung gekommen ist, wie dies sonst regelmäßig der Fall ist, wenn ein höherer Titel zu einem gleichartigen niedrigeren hinzutritt. Der Titel „deutscher Kaiser“ deckt den Titel „König von Preußen“ nicht; er ist nicht der höhere; er ist ihm überhaupt nicht homogen; er bezeichnet nur einen Teil der Rechte und eine besonders Ehrenstellung des Königs von Preußen. Deshalb wird in offiziellen Aktenstücken der Titel „deutscher Kaiser“ nicht allein und selbstständig gebraucht, sondern der Titel „König von Preußen“ hinzugefügt, selbst wenn es sich um Reichsangelegenheiten, z. B. Die Verkündigung von Reichsgesetzen oder den Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen des Reiches handelt, während andererseits in Angelegenheiten des preußischen Staates der Titel „König von Preußen“ selbstständig geführt wird.
2. Die Erblichkeit der Kaiserwürde, welche sich aus dem Art. 11 der Reichsverfassung ergibt, findet einen Ausdruck teils in der Formel „von Gottes Gnaden“, teils darin, daß der Kronprinz von Preußen den Titel „Kronprinz des Deutschen Reiches“ und das Prädikat „Kaiserliche Hoheit“ führt, neben welchen Bezeichnungen die Benennungen „Kronprinz von Preußen“ und resp. „Königliche Hoheit“ beibehalten werden. Diese Würde und das damit verbundene Prädikat geht auf jeden künftigen Thronfolger an der preußischen Krone ohne Weiteres über.
3. Nicht nur der Kaiser für seine Person, sondern auch die von ihm Kraft seiner Präsidialbefugnisse ernannten Behörden und Beamten sind als kaiserliche zu bezeichnen. Es ist dies ausdrücklich bestimmt worden durch den Allerhöchsten Erlaß vom 3. August 1871, Nr. 1 (Reichsgesetzbl. 1871, S. 318) und entspricht der Übung. Ebenso können das Prädikat „kaiserlich“ die in der kaiserlichen Hofhaltung angestellten Privatbeamten und Diener, Hoflieferanten und dergleichen Personen führen. Dagegen werden die preußischen Staatsbehörden und Beamten nicht als kaiserliche, sondern lediglich als königliche bezeichnet.
4. Mit dem kaiserlichen Titel ist die Kaiserkrone, die Führung des kaiserlichen Wappens und der kaiserlichen Standarte verbunden. Diese Insignien sind festgestellt worden durch einen Allerhöchsten Erlaß vom 3. August 1871, Nr. 2 und 3.
5. Das kaiserliche Wappen ist durch die Bestimmung des Reichsstrafgesetzbuches Art. 360, Z. 7, gegen den Missbrauch durch unbefugte Abbildung zur Bezeichnung von Waren auf Aushängeschildern oder Etiketten verwendet zu werden, geschützt. Durch einen Allerhöchsten Erlaß vom 16. März 1872 hat der Kaiser aber allen „deutschen Fabrikanten“ den Gebraucht und die Abbildung des kaiserlichen Adlers in der durch den Erlaß vom 3. August 1871 festgestellten Form gestattet; ausgeschlossen ist jedoch die Form eines Wappenschildes.
6. Pecuniäre Vorrechte, insbesondere eine sogen. Civilliste, sind mit der Kaiserwürde nicht verbunden. In Beziehung auf die Hofhaltung und auf die sogen. Repräsentation ist ein Unterschied zwischen den durch die Stellung als König von Preußen und den durch die Stellung als Deutscher Kaiser verursachten Kosten nicht durchführbar; es läßt sich nicht einem die Behauptung begründen, daß durch die kaiserliche Würde größere Repräsentationskosten verursacht werden, als sie auch die Stellung eines Königs von Preußen geboten sind. Die Dotation der Krone ist ausschließlich Sache des preußischen Staates. Durch das Staatsgesetz wird aber dem Kaiser alljährlich ein „Dispositionsfonds“ aus Reichsmitteln zur Verfügung gestellt.
II. Regierungsrechte
Eine Erörterung der einzelnen Befugnisse, welche die Reichsverfassung und die Reichsgesetze dem Kaiser auf den verschiedenen Gebieten der Staatstätigkeit beilegen, kann nur bei der speziellen Darstellung dieser Gebiete gegeben werden; denn die kaiserlichen Befugnisse stehen überall im engsten Zusammenhang mit den Funktionen der übrigen Organe des Reiches und der materiellen Regelung der einzelnen Reichsverwaltungszweige. Welche Rechte d. h. Staatliche Funktionen der Kaiser z. B. In Zollsachen, Militärsachen, Angelegenheiten der Post- und Telegraphie u. s. w. hat, läßt sich nur bei der Darstellung des Zoll-, Militär-, Post- und Telegraphenwesens u. s. w. Entwickeln, wenn nicht der innere, sachliche Zusammenhand zerstört werden soll. Dagegen ist es von wesentlicher Bedeutung, die Stelle, welche der Kaiser im Organismus des Reiches einnimmt, juristisch zu bestimmen, und gerade diese Aufgabe ist in der bisherigen Literatur des Reichsstaatsrechts ganz vernachlässigt worden.
Den Ausgangspunkt muss auch hier die rechtliche Natur des Reiches und das Wesen des Bundesstaates bilden. Das Reich ist – wie oben entwickelt worden ist – eine Corporation des öffentlichen Rechts, deren Mitglieder die einzelnen deutschen Staaten, beziehungsweise deren Landesherren als Vertreter der Staaten sind. In der Reichsverfassung kehren demgemäß die allgemeinen Grundzüge der Corporationsverfassung wieder, und die Organe des Reiches haben ihr Analogon in den Organen der Privatcorporation; nur daß ihre Stellung von den Prinzipien des öffentlichen Rechts, nicht von denen des Privatrechts beherrscht wird, alle ihre Rechte auf die Ausübung von Hoheits- oder Herrschaftsrechten sich beziehen und in untrennbarem Zusammenhang mit den Pflichten zur Erfüllung der staatlichen Aufgaben des Reiches stehen. In dieser öffentlichrechtlichen Corporation, welche das Reich ist, ist der Kaiser dasjenige Organ, welches man bei der Privatcorporation den Vorstand oder Direktor nennt, und seine Befugnisse und Pflichten, seine – sozusagen amtlichen – Funktionen entsprechen im Wesentlichen den Befugnissen und Pflichten, welche der Vorstand oder Direktor einer juristischen Person überhaupt hat.
Es sind dies im Wesentlichen folgende:
1. Der Kaiser ist der alleinige, ausschließliche Vertreter des Reiches Dritten gegenüber. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß der Umfang seiner Vertretungsbefugnis, seiner Vollmacht, ein unbegrenzter, allumfassender ist; daß der Kaiser rechtlich befugt sei, mit verbindlicher Kraft für das Reich jeden Vertrag abzuschließen, der ihm beliebt. Er kann hierin sehr wohl an die Zustimmung des Bundesrates und Reichstages gebunden oder durch Reichsgesetze materiell beschränkt sein, was in der Tat der Fall ist.
Aber das Reich hat keinen anderen Vertreter als den Kaiser, beziehentlich die von ihm ernannten Beamten als dessen Gehilfen. Weder der Bundesrat alleine, noch Bundesrat und Reichstag zusammen, noch die einzelnen deutschen Landesherren in Person können für das Reich einen Vertrag abschließen; der Kaiser allein ist zur Vertretung des Reiches befugt; für das Reich kann kein Vertragsverhältnis begründet werden, ohne daß der Kaiser es contrahirt.
Es folgt ferner aus diesem Grundsatz, daß alle vom Kaiser im Namen des Deutschen Reiches innerhalb seiner verfassungsmäßigen Vertretungsbefugnis abgeschlossenen Verträge für das Reich rechtswirksam sind, Rechte und Pflichten für das Reich begründen. Diese Funktion des Kaisers als Vertreter des Reiches ist in der Reichsverfassung Art. 11, Abs. 1 für die völkerrechtlichen Beziehungen anerkannt:
„Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reiches Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen.“
Allein es ist unrichtig, die Vertretung des Reiches durch den Kaiser auf die völkerrechtlichen Beziehungen des Reiches zu beschränken. Der Kaiser ist auch in allen übrigen Beziehungen, in welche das Reich zu dritten Personen treten kann, sein Vertreter. Insbesondere auch bei allen privatrechtlichen (fiskalischen) Erwerbungen für das Reich und Belastungen des Reiches. Zur Aufnahme von Anleihen und zur Übernahme von Garantien zu Lasten des Reiches, zur Veräußerung von Reichsvermögen, zur Erwerbung von Vermögen für das Reich und zu allen anderen privatrechtlichen Geschäften des Reichsfiskus mit Dritten ist allein der Kaiser, beziehentlich der von ihm zu seiner Vertretung ermächtigte und von ihm ernannte Reichsbeamte, der auf seinen Befehl und in seinem Namen handelt, befugt. Nicht minder ist der Kaiser der Vertreter des Reiches bei allen Rechtsbeziehungen zwischen dem Reiche und den Einzelstaaten. Bei der Begründung oder Geltendmachung von Rechten und Pflichten zwischen dem Reich und einem Gliedstaat wird der letztere durch seinen Landesherrn, die Gesamtheit (das Reich) durch den Kaiser vertreten.
Auch bei der Ernennung der Reichsbeamten handelt der Kaiser als Vertreter des Reiches, insoweit dadurch der Beamte vermögensrechtliche Ansprüche gegen die Reichskasse erwirbt. Wenn das Reich im Wege der Gesetzgebung Rechtsnormen aufstellt, so ist es der Kaiser, der sie „im Namen des Reiches verordnet“, wie die Eingangsformel jedes Reichsgesetzes lehrt. Der Kaiser ist also der Vertreter des Reiches nicht nur in völkerrechtlicher, sondern auch in staatsrechtlicher und privatrechtlicher Beziehung.
2. Dem Kaiser liegt die Regierung des Reiches ob. Es entspricht dies der Befugnis und Verpflichtung des Vorstandes einer Privatcorporation zur Geschäftsführung. Begrifflich beruht der Gegensatz der Geschäftsführung und der Vertretung darauf, daß die erstere eine lediglich innere Angelegenheit der Corporation ist, welche die Vornahme aller, zur Erfüllung der Zwecke der Corporation erforderlichen Handlungen und Maßregeln umfasst, während die Vertretung nur Dritten gegenüber in Betracht kommt und darin besteht, daß für die Corporation Dritten gegenüber durch den Vertreter Rechtsverhältnisse begründet werden.
Dieser Unterschied ist auch für das Staatsrecht von sehr großer Bedeutung. Was man gewöhnlich Verwaltung oder auch in unpassender Weise „Exekutive“ nennt und woraus die frühere Theorie irrtümlich eine „exekutive Gewalt“ gemacht hat, entspricht diesem Begriff der Geschäftsführung, der für die Corporationen und Gesellschaften des Privatrechts längst erkannt und festgestellt ist. Er unterscheidet sich von ihm nur durch die Art der Geschäfte; die Geschäfte des Staates sind öffentlich-rechtlichen Inhalts, sie betreffen die Erfüllung der Aufgaben und Zwecke des Staates, die Handhabung der ihm zukommenden Hoheitsrechte, die Förderung seines Gedeihens; sie sind Regierungsgeschäfte.
Bei einem Teile dieser Geschäfte ist der Kaiser durch Verfassung oder Gesetz an die Mitwirkung anderer Organe gebunden, nämlich des Bundesrates und des Reichstages oder auch an die der Einzelstaaten. Es ist ferner nicht zweifelhaft, daß bei Führung der Regierungsgeschäfte die Reichsgesetze nicht verletzt werden dürfen; daß vielmehr die letzteren teils positiv den Inhalt der Regierungstätigkeit bestimmen, teils negativ rechtliche Schranken für die Handlungsfreiheit des Kaisers bei der ihm obliegenden Regierungstätigkeit sind.
Im Allgemeinen aber ist der Kaiser das mit der Führung der Regierungsgeschäfte betraute Organ des Reiches. Es äußert sich diese, dem Kaiser obliegende Funktion in folgenden Hauptrichtungen:
a) Die Tätigkeit der übrigen Organe des Reiches, des Bundesrates und Reichstages, wird von dem Kaiser in Gang erhalten und gewissermaßen reguliert. Ihm steht es zu, den Bundesrat und den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen (Art. 12); er ernennt den Vorsitzenden des Bundesrates (Art. 15); er bringt die von den Bundesgliedern gemachten Vorschläge im Bundesrate zur Beratung (Art. 7, Abs. 2); in seinem Namen werden die Beschlüsse des Bundesrates an den Reichstag gebracht (Art. 16); und nach erzielter Übereinstimmung zwischen Bundesrat und Reichstag steht ihm die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze zu (Art. 17).
b) Dem Kaiser liegt die Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze ob (Art. 17, 36, Abs. 2) und teils die Reichsverfassung selbst, teils eine bedeutende Anzahl von Reichsgesetzen ermächtigen ihn zum Erlaß von Verordnungen, welche zur Ausführung einzelner Reichsgesetze erforderlich sind.
c) Der Kaiser ernennt nach freiem Belieben den Reichskanzler, den verantwortlichen Minister des Reiches, und kann ihn nach freiem Belieben in den Ruhestand versetzen. Dadurch ist dem Kaiser die oberste Leitung der Regierung übertragen; er bestimmt die Richtung der Politik, die Zielpunkte der staatlichen Geschäftsführung des Reiches. Wenn auch tatsächlich die Führung der Geschäfte dem Reichskanzler obliegt, so ist derselbe doch rechtlich lediglich das Willenswerkzeug und der Gehilfe des Kaisers. Auch die übrigen Reichsbeamten werden der Regel nach vom Kaiser ernannt und erforderlichen Falles entlassen oder in den Ruhestand versetzt. (Reichsverfassung Art. 18.)
d) Dem Kaiser liegt die Wahrnehmung der auswärtigen Beziehungen des Reiches ob, die Aufrechterhaltung des diplomatischen Verkehrs, die Anbahnung und Führung von Verhandlungen über abzuschließende völkerrechtliche Verträge, die Wahrnehmung der Interessen des Reiches, seiner Mitglieder und seiner Angehörigen fremden Staaten gegenüber. (Reichsverfassung Art. 11, 56.)
3. Der Kaiser ist der Verwalter der Machtmittel des Reiches. Auch in dieser Beziehung ist seine Stellung derjenigen analog, welche der Vorstand einer privatrechtlichen Corporation hat. Nur darf man nicht vergessen, daß eine Privatrechtscorporation keine anderen Machtmittel hat als pecuniäre und keine andere Administration als Vermögensverwaltung. Der Staat dagegen gebietet auch über Machtmittel öffentlich-rechtlicher Natur, über die staatlich organisierten Streitkräfte. Die Verwaltung dieser Machtmittel findet ihren schärfsten Ausdruck in dem Oberbefehl über das Heer und die Kriegsmarine und in der Ausübung dieses Oberbefehls nicht nur zur Bekämpfung äußerer Feinde, sondern, wenn es erforderlich ist, auch zur Vollstreckung der Execution gegen Bundesglieder, welche ihre verfassungsmäßigen Bundespflichten nicht erfüllen (Art. 19), und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit im Innern, wenn dieselbe in einem Teile des Bundesgebietes bedroht ist, durch Erklärung desselben in Kriegszustand. (Art. 68.)
4. Endlich hat der Kaiser die – dem Reiche zustehende – Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen auszuüben. Es ist dies eine Funktion des Kaisers, welche zwar durch die Organisation des Reiches selbst nicht gegeben und in der Reichsverfassung selbst in keiner Art vorgesehen ist, welche aber mit ihr auch nicht im Widerspruch steht, sondern sich mit der Befugnis des Kaisers zur Leitung der Regierung, zur Führung der Geschäfte des Reiches leicht und ungezwungen verbindet. Bei der sehr anomalen Rechtsstellung des Reichslandes im Vergleich zu den Bundesgliedern kann auch das staatsrechtliche Verhältnis des Kaisers zum Reichslande seine nähere Erörterung erst in dem, Elsaß-Lothringen gewidmeten, besonderen Abschnitte finden. Auch die Schutzgewalt in den deutschen Schutzgebieten übt der Kaiser im Namen des Reichs aus.
Aus dem Buch https://archive.org/details/dasstaatsrechtd02labagoog