Wie hatte sich doch alles anders gestaltet! Ein Jahr früher reichten die Sachsen und Preußen einander zum gemeinschaftlichen Kampfe gegen die Franzosen die Hand; jetzt mußten die Sachsen mit den Franzosen ins Feld ziehen, um mit ihnen die Waffen gegen die Preußen zu führen.
Napoleon blieb im Kampfe gegen die Preußen und Russen Sieger und schloß (im Juli) 1807 zu Tilsit mit beiden Gegnern Friede. Preußens König mußte, außer der Erfüllung anderer harter Bedingungen, die polnischen Besitzungen abtreten. Aus diesen Provinzen bildete Napoleon ein neues Land, welches er nach der Hauptstadt Herzogthum Warschau nannte. Dasselbe umfaßte 1850 Quadratmeilen mit mehr als 2 300 000 Einwohnern.
Als Herrn dieses neuen Landes hatte Napoleon den König von Sachsen ausersehen, von welchem Entschlusse derselbe erst nach dem Tilsiter Frieden in Kenntniß gesetzt ward. Die im Jahre 1791 (Seite 366) ihm angetragene polnische Krone hatte er ausgeschlagen, weil er sich von ihrem Besitze kein Heil für Sachsen erwartete. Jetzt blieb ihm keine Wahl übrig. Er mußte die neue Würde annehmen, wollte es doch Napoleon also haben. Sehr natürlich, daß sich Friedrich August über diese Vergrößerung seiner Macht nicht recht von Herzen freuen konnte. Seinem redlichen Sinne war es allezeit zuwider gewesen, auf Kosten anderer Fürsten sich zu bereichern. Auch mochte ihm eine dunkle Ahnung sagen, daß die gewaltsamen, von Napoleon vorgenommenen Aenderungen nicht von langem Bestande sein könnten.
Bis jetzt hatten die beiden Fürsten einander noch nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen. Auf einmal verbreitete sich die Nachricht, daß Napoleon auf seiner Rückreise nach Paris unserm Könige einen Besuch zugedacht habe. Aus den entferntesten Gegenden strömten die Menschen herbei, um den außerordentlichen Mann zu sehen, der vom einfachen Artillerielieutenant bis zur höchsten Stufe menschlicher Macht empor gestiegen war. Unser König fuhr dem hohen Gaste bis Bautzen entgegen. Am 17. Juli nachmittags 5 Uhr kam ein eilender Feldjäger die Bautzenerstraße daher gesprengt und verkündete der harrenden Menge, daß der Kaiser soeben eintreffen werde. Unter Kanonendonner, Glockengeläute und weithinschallendem Vivatrufen hielt Napoleon an der Seite unsers Königs seinen Einzug in Dresden. Während seines sechstägigen Aufenthalts daselbst bot sich der Menge vielfach Gelegenheit dar, den damals von aller Welt bewunderten Mann wiederholt zu sehen. *)
*) Bei einem Besuche im Kadettenhause examinirte Napoleon die Kadetten. selbst, und beim Besuch der königlichen Bibliothek schrieb er sich eigenhändig ins Fremdenbuch, aber nicht wie andere Leute von links nach rechts, sondern von unten nach oben, so daß sein Name von allen andern absticht.
Trotz alles Jubels konnte man sich aber doch nicht recht glücklich fühlen. Niemand wußte, ob nicht in der nächsten Zeit von neuem der Ruf zu den Waffen ertönen werde; denn der junge, vom Glück begünstigte französische Held war kein Friedens-, sondern ein Schlachtenkaiser. In der That führte er auch sein Heer sehr bald wieder zu neuem Kampf, und diesmal gegen Oesterreich. Alle Mitglieder des Rheinbundes mußten Truppen zur französischen Armee stellen, und so hatte auch unser Sachsen gegen 19000 Mann mit ins Feld rücken zu lassen.
Quellangaben und Verweise.
Aus: Geschichte des Königreichs Sachsen mit besonderer Berücksichtigung der wichtigsten culturgeschichtlichen Erscheinungen. Autor: Karl Petermann, Direktor der evangelischen Freischule in Dresden. Leipzig 1881. Verlag von Julius Klingkhardt. Seite 376-379.
Quelle: https://staatsbibliothek.ewigerbund.org/viewer/image/p_gesch_sachsen/1/LOG_