Achter Abschnitt

Gewähr der Verfassung

§ 138


1) Zusage des Königs und Regierungsverwesers bei dem Regierungsantritt


(1) Der Thronfolger hat bei dem Antritte der Regierung in Gegenwart des Gesamt-Mini-
sterii und der beiden Präsidenten der letzten Ständeversammlung bei seinem Fürstlichen Worte zu versprechen, daß er die Verfassung des Landes, wie sie zwischen dem Könige und den
Ständen verabschiedet worden ist, in allen ihren Bestimmungen während seiner Regierung beo-
bachten, aufrecht erhalten und beschützen wolle.

(2) Ein Gleiches ist auch von dem Regierungsverweser (§ 9) zu bewirken.

(3) Die hierüber zu erteilende Urkunde, wovon ein Abdruck in die Gesetzsammlung auf-
genommen wird, ist den beiden Präsidenten der Kammern auszuhändigen, welche sie der näch-
sten Ständeversammlung zu übergeben und immittelst im ständischen Archive beizulegen ha-
ben.


§ 139

2) Eid auf die Verfassung

Der Untertanen-Eid und der Eid der Zivil-Staatsdiener und der Geistlichen aller christlichen Konfessionen ist, nächst dem Versprechen der Treue und des Gehorsams gegen den König und die Gesetze des Landes, auch auf die Beobachtung der Landesverfassung zu richten.88


§ 140

3) Beschwerden der Stände gegen Ministerien und andere Staatsbehörden, wegen Verletzung der Verfassung

(1) Die Stände haben das Recht, Beschwerden über die durch die Königlichen Ministerien
oder andere Staatsbehörden geschehene Verletzung der Verfassung in einem gemeinschaftlichen Antrage an den König zu bringen.

(2) Dieser wird den Beschwerden sofort abhelfen, oder, wenn ein Zweifel dabei obwaltet, selbige nach der Natur des Gegenstandes durch die oberste Staatsbehörde oder die oberste Justizstelle erörtern lassen.

(3) Wird die Erörterung der obersten Staatsbehörde übertragen, so hat diese ihr Gutachten dem Könige zur Entscheidung vorzulegen; wird selbige aber an die oberste Justizstelle verwiesen, so hat letztere zugleich die Sache zu entscheiden. Der Erfolg wird in beiden Fällen den Ständen eröffnet.


§ 141

4) Diesfallsige Anklage der Stände gegen die Vorstände der Ministerien

(1) Die Stände haben insbesondere auch das Recht, die Vorstände der Ministerien, welche sich einer Verletzung der Verfassung schuldig machen, förmlich anzuklagen.

(2) Finden sie sich durch ihre Pflichten aufgefordert, eine solche Anklage zu erheben, so sind die Anklagepunkte bestimmt zu bezeichnen, und in jeder Kammer durch eine besondere
Deputation zu prüfen.

(3) Vereinigen sich hierauf beide Kammern in ihren Beschlüssen über die Anklage, so bringen sie dieselbe mit ihren Belegen an den nachstehend § 142 bezeichneten Staatsgerichtshof.


§ 142

Staatsgerichtshof. Dessen Kompetenz

(1) Zum gerichtlichen Schutze der Verfassung wird ein Staatsgerichtshof begründet. Diese
Behörde erkennt über Handlungen der Vorstände der Ministerien, welche auf den Umsturz der Verfassung gerichtet sind, oder die Verletzung einzelner Punkte der Verfassung betreffen.89

(2) Überdies kann auch noch in den § 83 und 153 bemerkten Fällen an selbige der Rekurs genommen werden.


§ 143

Dessen Organisation

(1) Der Staatsgerichtshof besteht aus einem Präsidenten, welcher von dem Könige aus den
ersten Vorständen der höheren Gerichte ernannt wird, und aus zwölf Richtern, wovon der König sechs aus den Mitgliedern jener Gerichte, und jede Kammer drei, nebst zwei Stellvertretern außerhalb der Mitte der Ständeversammlung, wählt. Unter den von den Ständen gewählten
Mitgliedern müssen mindestens zwei Rechtsgelehrte sein, welche auch, mit Vorbehalt der Einwilligung des Königs, aus den Staatsdienern gewählt werden können.

(2) Die Stelle des Präsidenten vertritt im Verhinderungsfall der erste der vom Könige be-
stellten Richter.

(3) Die Ernennung der Mitglieder erfolgt für die Periode von einem ordentlichen Landtage zum andern, und zwar jederzeit am Schluss desselben. Im Falle einer Vertagung des Landtags oder der Auflösung der zweiten Kammer, bleibt der am Schluss des vorigen ordentlichen Landtags bestellte Gerichtshof bis wieder zum Schluss der nächsten Ständeversammlung fortbestehen.


§ 144

(1) Der Präsident und sämtliche Richter werden für diesen ihren Beruf besonders verpflichtet und im Bezug auf selbigen ihres Untertanen- und sonstigen Diensteides entbunden.

(2) Weder der König noch die Stände können die Ernennung der Mitglieder während der Zeit, auf welche sie ernannt sind, zurücknehmen.

(3) Nimmt jedoch ein von den Ständen gewählter Richter ein Staatsamt an, so hört er dadurch auf, Mitglied des Staatsgerichtshofs zu sein, kann aber von der betreffenden Kammer sofort wieder gewählt werden.


§ 145

Versammlung des Staatsgerichtshofs

(1) Das Gericht versammelt sich auf Einberufung durch den Präsidenten, welche von diesem sogleich geschehen muß, wenn er dazu einen von dem Vorstande der Justiz-Ministerii kontrasignierten Befehl des Königs, oder eine von den Präsidenten beider Kammern unterzeichnete Aufforderung, mit Angabe des Gegenstandes, erhält.

(2) Die Funktion des Gerichts hört auf, wenn der Prozeß geendigt ist.

(3) Der Präsident hat für die Vollziehung der Beschlüsse zu sorgen und im Falle eines Anstands das Gericht wieder zu versammeln.


§ 146

Verfahren desselben

(1) Der Präsident bestellt zu Leitung der vom Staatsgerichtshofe zu führenden Untersuchung ein vom Könige ernanntes und ein rechtskundiges, von den Ständen gewähltes Mitglied.

(2) Zu jeder hauptsächlichen Entscheidung werden von sämtlichen Mitgliedern, mit Einschluss des Präsidenten, nach Stimmenmehrheit zwei Referenten gewählt.

(3) Ist der erste Referent ein vom Könige ernanntes Mitglied, so muß der Korreferent ein von den Ständen gewähltes sein, und umgekehrt. Im Falle der Stimmengleichheit bei dieser Wahl entscheidet die Stimme des Präsidenten.


§ 147

(1) Bei jedem Beschluss muß eine gleiche Anzahl vom Könige bestellter und von den Ständen gewählter Mitglieder anwesend sein.

(2) Sollte durch Zufall eine Ungleichheit der Zahl eintreten, welche nicht sogleich durch anderweite Ernennung oder durch Eintritt eines Stellvertreters gehoben werden kann, so tritt das letzte Mitglied von der überzählenden Seite aus, doch darf die Zahl der Richter nie unter zehn sein.

(3) Dem Präsidenten steht außer den § 146 und 153 bemerkten Fällen keine Stimme zu.

(4) Im Falle der Stimmengleichheit entscheidet die für den Angeklagten günstigere Meinung.

(5) Die Akten des Staatsgerichtshofs werden durch den Druck bekannt gemacht.


§ 148

Strafbefugnis des Staatsgerichtshofs

(1) Das Strafbefugnis des Staatsgerichtshofs erstreckt sich nur auf ausdrückliche Mißbilligung des Verfahrens oder Entfernung vom Amte.

(2) Wenn selbiger die in seiner Kompetenz liegende Strafe erkannt hat, ohne eine weitere ausdrücklich auszuschließen, so bleibt nicht nur dem ordentlichen Richter vorbehalten, gegen
den Verurteilten ein weiteres Verfahren von Amtswegen eintreten zu lassen, sondern die Staatsgerichtshof hat auch diesem Richter von dem Ausgang der verhandelten Anklage Nachricht zu geben.


§ 149

Rechtsmittel gegen dessen Erkenntnis

Gegen den Ausspruch des Staatsgerichtshofs findet keine Appellation, wohl aber die Berufung auf ein anderweites Erkenntnis Statt. In diesem Falle sind zwei andere Mitglieder als Referent und Korreferent dergestalt zu wählen, daß, wenn bei dem ersten Erkenntnisse der Referent ein vom Könige bestelltes Mitglied war, der nunmehrige Referent ein von den Ständen gewähltes sein muß, und umgekehrt. Auch ist zu einem solchen anderweiten Verspruche der Gerichtshof noch um zwei Mitglieder zu vermehren und daher Königlicherseits noch ein Mitglied eines
höheren Gerichts außerordentlich zuzuordnen, ständischerseits aber einer der nach § 143 vorher bestimmten Stellvertreter einzuberufen.


§ 150

Verfahren des Königs in Fällen der Anklage

Der König wird nicht nur die Untersuchung niemals hemmen, sondern auch das ihm zu-
stehende Begnadigungsrecht nie dahin ausdehnen, daß ein von dem Staatsgerichtshofe in die
Entfernung vom Amte verurteilter Staatsdiener in seiner bisherigen Stelle gelassen, oder in ei-
nem anderen Justiz- oder Staatsverwaltungs-Amt angestellt werde, dafern nicht in Rücksicht
der Wiederanstellung das Erkenntnis einen ausdrücklichen Vorbehalt zu Gunsten des Verur-
teilten enthält.


§ 151

Resignation des Angeklagten

Die Resignation des Angeklagten hat auf das gegen ihn eingeleitete Verfahren und den Urteilsspruch keinen Einfluß.


§ 152

5) Anträge auf Abänderung oder Erläuterung der Verfassungsurkunde, oder auf Zusätze zu selbiger

(1) Anträge auf Abänderungen oder Erläuterungen in den Bestimmungen der Verfassungsurkunde, oder auf Zusätze zu derselben, können sowohl von dem Könige an die Stände, als von den Ständen an den König gebracht werden.

(2) Zu einem gültigen Beschluss in dieser Angelegenheit wird die Übereinstimmung beider
Kammern und in jeder Kammer die Anwesenheit von drei Vierteln der verfassungsmäßigen
Zahl der Mitglieder, sowie eine Stimmenmehrheit von zwei Dritteln der Anwesenden erfordert, auch kann von den Ständen ein solcher Antrag nicht eher an den König gebracht werden, als bis in zwei ordentlichen, unmittelbar auf einander folgenden Ständeversammlungen deshalb
übereinstimmende Beschlüsse gefaßt worden sind. Bei dem ersten nach Publikation der Verfassungsurkunde zu haltenden Landtage kann aber eine Abänderung oder Erläuterung der Verfassung, oder ein Zusatz zu selbiger, in der Ständeversammlung weder beantragt noch beschlossen werden.90


§ 153

6) Erledigung zweifelhafter Punkte in der Verfassungsurkunde

(1) Wenn über die Auslegung einzelner Punkte der Verfassungsurkunde Zweifel entsteht,
und derselbe nicht durch Übereinkunft zwischen der Regierung und den Ständen beseitigt
werden kann, so sollen die für und wider streitenden Gründe sowohl von Seiten der Regierung,
als der Stände, dem Staatsgerichtshofe zur Entscheidung vorgelegt werden.

(2) Zu diesem Behufe ist von jedem Teile eine Deduktion dem Gerichtshofe zu übergeben, solche gegenseitig mitzuteilen, und in einer zweiten Schrift zu beantworten, so daß jedem
Teile zwei Schriften freistehen. Bei der Entscheidung gibt im Falle der Stimmengleichheit die
Stimme des Präsidenten den Ausschlag.

(3) Der hierauf erteilte Ausspruch soll als authentische Interpretation angesehen und befolgt werden.


§ 154

7) Aufhebung der mit der Verfassungsurkunde in Widerspruch stehenden Gesetze, Verordnungen und Observanzen

Alle Gesetze, Verordnungen und Observanzen, welche mit einer ausdrücklichen Bestimmung der gegenwärtigen Verfassungsurkunde im Widerspruch stehen, sind insoweit ungültig.


84 Der § 134 wurde durch das VG. von 1874 (II) gestrichen und sein Gegenstand der Landtagsordnung zugewiesen.
85 Siehe dazu LdtgsO. § 11, 12.
86 Der § 134 wurde durch das VG. von 1874 (II) gestrichen und sein Gegenstand der Landtagsordnung zugewiesen(siehe § 11, 12, 25, 26 der Ldtgs O.). Die offiziellen Sitzungsprotokolle werden seit 1874 nicht mehr veröffentlicht (weil dies nach dem Stand der Presse und neben der Publikation der Landtagsmitteilungen überflüssig sei).
87 Die zuletzt geltende Landtagsordnung ist mit vom 12. Oktober 1874. 88 Wegen des Untertaneneids s. § 2 der VO. vom 24. Dez. 1870 und § 57 der Allg. Städteordnung vom 4. Sept. 1831 (v. Bosse zu §16 der RAStO in seiner Ausgabe dieses Gesetzes 4 A. von 1890).
Der Untertaneneid wird nur bei der Verleihung der Sächs. Staatsangehörigkeit und bei der Aufnahme in das städtische Bürgerrecht geleistet. Die sämtlichen Eide des § 139 fallen endlich unter das Gesetz über die Form der Eidesleistung vom 20. Febr. 1879 und (mit Ausnahme des Untertaneneides) unter die VO. von demselben Tage. 89 Das Verfahren des Staatsgerichtshofs ist durch das Ges. v. 3. Febr. 1838 geordnet worden. 90 Der letzte Satz des § ist seit dem 20. Oktober 1834, an welchem der erste Landtag nach Publikation der VU. geschlossen wurde, gegenstandslos geworden.


Indem Wir vorstehenden Bestimmungen für das Staatsgrundgesetz Unseres Königreichs
hiermit erklären, erteilen Wir zugleich bei Unserem Fürstlichen Worte die Versicherung, dass
Wir nicht nur die darin enthaltenen Zusagen selbst genau erfüllen, sondern auch diese Verfassung gegen alle Eingriffe und Verletzungen kräftigst schützen wollen.
Zu dessen Urkunde haben Wir gegenwärtiges Staatsgrundgesetz eigenhändig unterschrieben und mit Unserem Königlichen Siegel versehen lassen.
Dresden, am 4. September 1831
Anton
Friedrich August, H. z. S.
L. S.

Gottlob Adolf Ernst Nostiz und Jänckendorf