Stimmen im Reichstag.
Der Reichstag ist im Gegensatz zum Bundesrat die Vertretung des Volkes. Während die Einzelstaaten zwei repräsentative Körperschaften, also das Zweikammersystem haben, ist im Reich das Einkammersystem eingeführt. Die Zahl der Reichstagsabgeordneten beträgt 397, hiervon entfallen auf
- Preußen 236,
- Bayern 48,
- Sachsen 23,
- Württemberg 17,
- Elsaß-Lothringen 15,
- Baden 14,
- Hessen 9,
- Mecklenburg-Schwerin 6,
- Sachsen-Weimar, Oldenburg, Braunschweig und Hamburg je 3,
- Sachsen-Meiningen, Sachsen-Coburg-Gotha und Anhalt je 2 Abgeordnete,
- auf die übrigen Bundesstaaten je ein Abgeordneter.
Bei der Feststellung dieser Zahl wurde davon ausgegangen, daß auf 100 000 Einwohner durchschnittlich ein Abgeordneter gewählt werden sollte. Die Vermehrung der Mandate, entsprechend der Steigerung der Bevölkerung von etwa 40 Millionen im Jahr 1870 auf rund 65 Millionen im Jahr 1910, würde eine Änderung der Reichsverfassung notwendig machen.
Die Wahlperiode ist fünfjährig. Die Wahl erfolgt aufgrund des allgemeinen, gleichen, geheimen, direkten Wahlrechts. Die Wahl erfolgt für die Dauer von 5 Jahren (Legislaturperiode). Das Amt des Abgeordneten, der die Interessen des gesamten deutschen Volkes zu vertreten hat und nicht etwa nur die seines Wahlkreises, ist zwar ein Ehrenamt; aber zur Deckung seines durch die Ausübung desselben verursachten Aufwands erhält er eine Entschädigung von 3000 M für jede Sitzungsperiode. Für jede versäumte Plenarsitzung kommen hiervon 20 M in Abzug. Während der Sitzungsperiode, sowie 8 Tage vor- und nachher hat er im ganzen Reichsgebiet freie Eisenbahnfahrt 1. Klasse.
Die Abgeordneten können wegen ihrer Abstimmung oder wegen Äußerungen im Reichstag von einem Gericht nicht zur Verantwortung gezogen und bestraft werden. Auch muß auf Verlangen der Mehrheit des Reichstags mit wenigen Ausnahmen das Strafverfahren und die Untersuchung gegen einen Abgeordneten während der Dauer der Sitzungsperiode ausgesetzt werden. Außerdem hat der Reichstag sich selbst eine Haus- und Geschäftsordnung geschaffen.
Der Zusammentritt.
Der Reichstag muß jährlich mindestens einmal einberufen werden und wird vom Kaiser oder dem Reichskanzler mit einer Thronrede eröffnet. Die Leitung der Verhandlungen liegt in den Händen des vom Plenum mit Stimmenmehrheit gewählten Präsidiums, bestehend aus dem Präsidenten, 2 Vizepräsidenten, 8 Schriftführern und 2 Schatzmeistern (Quästoren).
Der Kaiser kann den Reichstag vertagen, schließen und auflösen. Eine Vertagung, welche länger als 30 Tage dauern soll, bedarf der Zustimmung des Reichstags. Zur Auflösung desselben während der fünfjährigen Legislaturperiode ist die Zustimmung des Bundesrats erforderlich.
Die Rechte des Reichstags.
- Die Wahlprüfungen.
- Die Mitwirkung bei der Gesetzgebung. Ohne übereinstimmende Beschlüsse des Reichstags und Bundesrats kommt kein Gesetz zustande. Der Reichstag kann Gesetzesvorschläge machen, sogenannte Initiativanträge stellen.
Anmerkung zur Mitwirkung in der Gesetzgebung:
Der Reichstag war als eine die Reichsgewalt (d. i. der Bundesrat) beschränkende Kontrollinstanz konzipiert, nicht als Dreh- und Angelpunkt der Reichspolitik. Reichspolitik wird im Bundesrat gemacht und vom Reichskanzler geleitet. Trotzdem hat der Reichstag, wie oben angemerkt, das Recht Initiativanträge zu verfassen, wovon in der Vergangenheit auch umfangreich Gebrauch gemacht wurde.
„Der Zweck des Deutschen Reiches ist der Rechtsschutz. Die parlamentarische Tätigkeit (d.i. der Reichstag) ist bei Stiftung des bestehenden Bundes der Fürsten und Städte als ein Mittel zur Erreichung des Bundeszweckes, aber nicht als Selbstzweck aufgefasst worden. „
Otto von Bismarck über die Einrichtung des Reichstages.
- Die Mitwirkung bei der Finanzverwaltung. Der jährlich aufzustellende Reichshaushalt bedarf der Genehmigung des Reichstags.
- Verträge mit fremden Staaten, welche sich auf Gegenstände beziehen, die der Reichsgesetzgebung unterstehen, bedürfen seiner Genehmigung.
- Auch hat er das Recht, Bittgesuche aus der Mitte des Volkes entgegenzunehmen und an die Regierung Fragen zwecks Auskunftserteilung (Interpellationen) und an den Kaiser (schriftliche Ansprachen) zu richten.
Beschlüsse.
Die Beschlüsse werden mit absoluter Stimmenmehrheit gefaßt. Über alle Gesetzentwürfe müssen 3 Beratungen stattfinden. Nach der ersten Beratung oder Lesung kann die Angelegenheit einer Kommission von 7, 14, 21 oder 28 Mitgliedern überwiesen werden. Dieselbe erstattet Bericht in der zweiten Beratung (Lesung). In der dritten Lesung wird über Annahme oder Ablehnung des Gegenstandes entschieden.
Der Reichstag ist beschlußfähig, wenn mindestens 199 Mitglieder anwesend sind. Die Abstimmung geschieht in der Regel durch Aufstehen und Sitzenbleiben. Wird das Resultat angezweifelt, dann erfolgt die Gegenprobe. Beim sogenannten Hammelsprung verlassen die Abgeordneten den Saal und treten durch zwei verschiedene Türen wieder ein, je nachdem ob sie mit „ja“ oder „nein“ stimmen wollen. Auf Antrag von mindestens 50 Mitgliedern muß eine namentliche Abstimmung vorgenommen werden.