Der Reichstag ist eine Volksvertretung im Sinne des konstitutionellen Staatsrechts und besteht aus 397 Abgeordneten. Auf Preußen als größter Bundesstaat entfallen 236, auf die kleinsten Bundesstaaten jeweils 1 Abgeordneter. Ursprünglich wurde davon ausgegangen, daß pro 100 000 Einwohner* durchschnittlich ein Abgeordneter gewählt werden soll. Eine Änderung der Mandatszahl entsprechend des Bevölkerungswachstums kann nur durch die Änderung der Reichsverfassung erfolgen. Die Wahl der Abgeordneten erfolgte anfangs für drei Jahre, was später durch Gesetzesänderung auf fünf Jahre (Legislaturperiode) verlängert wurde. Gewählt wird nach dem allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht. Wählbar ist jeder Deutsche, der das 25. Lebensjahr vollendet hat. Die Tätigkeit des Abgeordneten ist ein Ehrenamt; seit 1906 wird für jede Sitzungsperiode eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 3000 Mark gezahlt, wovon für jede versäumte Plenarsitzung 20 Mark in Abzug gebracht werden. Die Reichstagsabgeordneten haben die Interessen des gesamten deutschen Volkes zu vertreten und nicht nur die des eigenen Wahlkreises. Bezüglich ihrer Abstimmungen oder Äußerungen im Reichstag können sie nicht zur Verantwortung gezogen oder bestraft werden.
Der Reichstag, der seine Geschäftsordnung selber regelt, muß mindestens einmal im Jahr einberufen und entweder vom Kaiser oder vom Reichskanzler mit einer Thronrede eröffnet werden. Gemäß der Reichsverfassung sind die Verhandlungen des Reichstages öffentlich, können aber auf Antrag des Präsidenten oder von mindestens 10 Mitgliedern unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden. Die Leitung der Verhandlungen liegt in der Hand eines gewählten Präsidiums, bestehend aus einem Präsidenten, 2 Vizepräsidenten, 8 Schriftführern und 2 Schatzmeistern. Es ist Aufgabe des Kaisers den Reichstag zu vertagen, zu schließen oder aufzulösen. Innerhalb einer Legislaturperiode muß der Bundesrat einer Auflösung zustimmen. Der Reichstag hat nicht das Recht sich selbst zu vertagen, kann aber durch Hinausschieben der Sitzungen eine tatsächliche Unterbrechung der Verhandlungen bewirken.
Aufgabe bzw. Recht des Reichstages ist die Mitwirkung bei der Gesetzgebung. So kann er Gesetzesvorschläge machen und ist zuständig für Wahlprüfungen. Gesetze kommen aber erst durch übereinstimmende Beschlüsse von Reichstag und Bundesrat zustande. Die Vermittlung zwischen dem Reichstag und dem Bundesrat obliegt dem Reichskanzler in Verbindung mit dem Reichstagspräsidenten.
Der Reichstag übt das Recht der Kontrolle über die Reichsverwaltung aus, indem er z. B. gewisse Verwaltungsakte genehmigt. So ist es u. a. seine Aufgabe den jährlich aufzustellenden Reichshaushalt in Form eines Gesetzes zu genehmigen, Beschlüsse über Bau und Konzessionierung von Eisenbahnen zu fassen, Verträge mit fremden Staaten (wenn sie sich auf der Reichsgesetzgebung unterstehende Gegenstände beziehen) zu genehmigen oder auch das Recht Bittgesuche aus dem Volk entgegenzunehmen und Auskunftsverlangen an die Regierung zu stellen. Zum Reichshaushalt gehörten auch die Kriegskredite in den Jahren 1914 bis 1918, mit deren Genehmigung/Ablehnung der Reichstag den Verlauf des Krieges positiv wie negativ beeinflussen konnte. Außerdem steht dem Reichstag das Recht zu, Wünsche und Anschauungen gegenüber dem Bundesrat oder dem Reichskanzler in Form von Resolutionen Ausdruck zu geben.
Die Beschlüsse des Reichstages werden mit absoluter Stimmenmehrheit gefaßt. Über alle Gesetzentwürfe müssen drei Beratungen stattfinden. Zur Beschlußfähigkeit ist die Anwesenheit von mindestens 199 Abgeordneten erforderlich. Die Abstimmung erfolgt in der Regel durch Aufstehen oder Sitzenbleiben. Für eine namentliche Abstimmung sind mindestens 50 Stimmen erforderlich.
Der Reichstag war als eine Reichsgewalt beschränkende Kontrollinstanz konzipiert worden und nicht als Dreh- und Angelpunkt der Reichspolitik, welche im Bundesrat gemacht und vom Reichskanzler geleitet wird. Trotzdem hat der Reichstag das Recht, Initiativanträge zu stellen, wovon er auch reichlich Gebrauch machte.
Der Zweck des Deutschen Reiches ist der Rechtsschutz. Die parlamentarische Tätigkeit (d. i. der Reichstag) ist bei Stiftung des bestehenden Bundes der Fürsten und Städte als ein Mittel zur Erreichung des Bundeszweckes, aber nicht als Selbstzweck aufgefasst worden.
Otto von Bismarck über die Einrichtung des Reichstages.