Der oberste Beamte des Reiches.
Der Reichskanzler ist der höchste Beamte des Deutschen Reiches. Da die vollziehende Gewalt (Exekutive) zwischen Bundesrat und Kaiser aufgeteilt ist, nimmt der Reichskanzler eine Dreifachstellung ein. Das heißt, der Reichskanzler ist in Personalunion Vorsitzender und Geschäftsführer des Bundesrates, kaiserlicher Reichsminister und oberster Leiter und Dienstvorgesetzter aller Reichsbehörden. Gleichzeitig ist er aus politischer Notwendigkeit, die allerdings nicht staatsrechtlich gefordert ist, auch preußischer Außenminister und preußischer Ministerpräsident. Als solcher fungiert er als Bevollmächtigter Preußens im Bundesrat. Seine dortige Aufgabe ist es, die Beschlüsse des preußischen Staatsministeriums zu befolgen. Er trägt dann auch die Verantwortung für diese. In seiner Eigenschaft als Vertreter Preußens wird er vom preußischen König ernannt bzw. abgerufen; in seiner Eigenschaft als Reichskanzler erfolgt die Ernennung bzw. Abberufung durch den Deutschen Kaiser. Diese Mehrfachfunktion kann zu Pflichtkollisionen führen. In diesem Fall ist es Aufgabe des Kaisers solch einen Konflikt zu lösen.
Als Vorsitzender des Bundesrates ist es Aufgabe des Reichskanzlers, die Rechte und Pflichten des Reiches wahrzunehmen. Gleichzeitig hat er in seiner Funktion als einer der von der preußischen Staatsregierung beauftragten 17 Vertreter Preußens die Rechte des preußischen Staates wahrzunehmen. Wesentlich wichtiger als seine Funktion im Bundesrat ist seine Funktion als oberster Reichsbeamter und oberste Reichsbehörde, also als einziger verantwortlicher Reichsminister. In dieser Position ist der Reichskanzler ermächtigt, die Regierungsgeschäfte im Bereich der Reichsverwaltung selbstständig zu erledigen.
Bezüglich der Reichsgeschäfte ist der Reichskanzler gleichzeitig Generalbevollmächtigter und Generalmandatar des Kaisers. Als Bevollmächtigter zählt es zu seinen Aufgaben im Namen des Kaisers z. B. Verhandlungen zu führen oder Verträge zu schließen, gleichgültig ob mit fremden Staaten oder Privatpersonen. Ebenso ist es ihm erlaubt, den Reichsfiskus in Prozessen zu vertreten oder Verwaltungsverordnungen an die Reichsbehörden zu erlassen. In seiner Eigenschaft als Mandatar hat der Reichskanzler u. a. dafür Sorge zu tragen, daß Bundesrat und Reichstag ihre Aufgabe erfüllen können oder die dem Kaiser gegenüber den einzelnen Bundesstaaten zustehenden Verwaltungs- und Aufsichtsrechte wahrzunehmen. Damit die vom Kaiser verkündeten Gesetze und Verordnungen Gültigkeit erlangen, müssen diese vom Reichskanzler gegengezeichnet werden (Kontrasignatur). Gültigkeit heißt in diesem Fall soviel wie Vollziehbarkeit. Der Kaiser vollzieht den Willen des Bundesrates, welcher Inhaber der Staatsgewalt ist. Mit der Kontrasignatur übernimmt der Reichskanzler damit die Verantwortung, daß heißt, er hat dafür Sorge zu tragen, daß alles verfassungskonform ist und nicht den Richtlinien der Politik entgegenläuft.
Für die umfangreichen Aufgaben des Reichskanzlers gibt es keinen direkten Stellvertreter. Es werden vom Kaiser jeweils entsprechende Stellvertreter für die verschiedenen Aufgaben ernannt.
Da der Umfang der Reichsgeschäfte im Laufe der Zeit immer mehr zunahm, wurden einzelne Verwaltungszweige vom Reichskanzleramt ausgegliedert und eigenen Staatssekretären zugeteilt. So gibt es z. B. einen Staatssekretär des Reichspostamtes, des Reichsschatzamtes oder einen des Reichsamtes des Inneren. Die Staatssekretäre werden vom Kaiser ernannt, bleiben aber dem Reichskanzler unterstellt. Die Verantwortung verbleibt theoretisch beim Reichskanzler, auch wenn tatsächlich jeder Staatssekretär diese selbst übernimmt, indem er in Stellvertretung des Reichskanzler für sein jeweiliges Ressort gegenzeichnet.
Der Reichskanzler ist also die höchste Verwaltungsinstanz gegenüber den Einzelstaaten, soweit die unmittelbare Reichsverwaltung betroffen ist (Bundesrat), die überwachende Aufsichtsbehörde (Reichsbehörden) sowie in der Führung der Regierungsgeschäfte der oberste Entscheidungsbefugte (kaiserlicher Reichsminister).