Verfassung des Deutschen Reichs.
Seine Majestät der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes, Seine Majestät der König von Bayern, Seine Majestät der König von Württemberg, Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Baden und Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Hessen und bei Rhein für die südlich vom Main gelegenen Teile des Großherzogtums Hessen, schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes. Dieser Bund wird den Namen Deutsches Reich führen und wird nachstehende V e r f a s s u n g haben.
I. Bundesgebiet.
Artikel 1
Das Bundesgebiet besteht aus den Staaten Preußen mit Lauenburg, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß älterer Linie, Reuß jüngerer Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen und Hamburg sowie Elsaß-Lothringen.¹
1) Durch Reichsgesetz betreffend die Vereinigung von Elsaß und Lothringen mit dem Deutschen Reiche vom 9. Juni 1871 (RGBl. S. 212), geändert durch Reichsgesetz vom 20. Juni 1872 ( RG Bl . S . 208) wurde die Reichsverfassung zum 1. Januar 1874 im Reichsland Elsaß-Lothringen in Kraft gesetzt. Die hierzu erforderlichen Bestimmungen ergingen durch Reichsgesetz betreffend die Einführung der Verfassung des Deutschen Reichs in Elsaß-Lothringen vom 25 . Juni 1873 ( RG Bl. S. 161). Außerdem wurde durch Reichsgesetz vom 15.12.1890 (RGBl. S.207 – 208 ) Helgoland dem preußischen Staat einverleibt.
II. Reichsgesetzgebung.
Artikel 2
Innerhalb dieses Bundesgebietes übt das Reich das Recht der Gesetzgebung nach Maßgabe des Inhalts dieser Verfassung und mit der Wirkung aus, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen.
Die Reichsgesetze erhalten ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichs wegen, welche vermittelst eines Reichsgesetzblattes geschieht. Sofern nicht in dem publizierten Gesetze ein anderer Anfangstermin seiner verbindlichen Kraft bestimmt ist, beginnt die letztere mit dem vierzehnten Tage nach dem Ablauf desjenigen Tages, an welchem das betreffende Stück des Reichsgesetzblattes in
Berlin ausgegeben worden ist.
Artikel 3
1) Für ganz Deutschland besteht ein gemeinsames Indigenat mit der Wirkung, daß der Angehörige (Unterthan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in jedem anderen Bundesstaate als Inländer zu
behandeln und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbe betriebe, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechtes und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische zuzulassen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich zu behandeln ist.
2) Kein Deutscher darf in der Ausübung dieser Befugnis durch die Obrigkeit seiner Heimat, oder durch die Obrigkeit eines anderen Bundesstaates beschränkt werden.
3) Diejenigen Bestimmungen, welche die Armenversorgung und die Aufnahme in den lokalen Gemeindeverband betreffen, werden durch den im ersten Absatz ausgesprochenen Grundsatz nicht berührt.
4) Ebenso bleiben bis auf weiteres die Verträge in Kraft, welche zwischen den einzelnen Bundesstaaten in Beziehung auf die Übernahme von Auszuweisenden, die Verpflegung erkrankter und die Beerdigung verstorbener Staatsangehörigen bestehen.
5) Hinsichtlich der Erfüllung der Militärpflicht im Verhältnis zu
dem Heimatslande wird im Wege der Reichsgesetzgebung das Nötige geordnet werden.
6) Dem Auslande gegenüber haben alle Deutschen gleichmäßig Anspruch auf den Schutz des Reichs.
Artikel 4
Der Beaufsichtigung seitens des Reichs und der Gesetzgebung desselben unterliegen die nachstehenden Angelegenheiten:²
1) die Bestimmungen über Freizügigkeit, Heimats- und Niederlassungs-Verhältnisse, Staatsbürgerrecht, Paßwesen und Fremdenpolizei und über den Gewerbebetrieb, einschließlich des Versicherungswesens, soweit die Gegenstände nicht schon durch den Artikel 3 dieser Verfassung erledigt sind, in Bayern jedoch mit Ausschluß der Heimats- und Niederlassungs-Verhältnisse, desgleichen über die Kolonisation und die Auswanderung nach außerdeutschen Ländern;
2) die Zoll- und Handelsgesetzgebung und die für die Zwecke des Reichs zu verwendenden Steuern;
3) die Ordnung des Maß-, Münz- und Gewichtssystems, nebstFeststellung der Grundsätze über die Emission von fundiertem und unfundiertem Papiergelde;
4) die allgemeinen Bestimmungen über das Bankwesen;
5) die Erfindungspatente;
6) der Schutz des geistigen Eigentums;
7) Organisation eines gemeinsamen Schutzes des Deutschen Handels im Auslande, der Deutschen Schiffahrt und ihrer Flagge zur See und Anordnung gemeinsamer konsularischer Vertretung, welche
vom Reiche ausgestattet wird;
8) das Eisenbahnwesen, in Bayern vorbehaltlich der Bestimmung im Artikel 46, und die Herstellung von Land- und Wasserstraßen im Interesse der Landesverteidigung und des allgemeinen Verkehrs;
9) der Flößerei- und Schiffahrtsbetrieb auf den mehreren Staaten gemeinsamen Wasserstraßen und der Zustand der letzteren, sowie die Fluß- und sonstigen Wasserzölle; desgleichen die Seeschiffahrtszeichen (Leuchtfeuer, Tonnen, Balken und sonstige Tagesmarken);³
10) das Post- und Telegraphenwesen, jedoch in Bayern und Württemberg nur nach Maßgabe der Bestimmung im Artikel 52;
11) Bestimmungen über die wechselseitige Vollstreckung von Erkenntnissen in Zivilsachen und Erledigung von Requisitionen überhaupt; sowie über die Beglaubigung von öffentlichen Urkunden;
12) die gemeinsame Gesetzgebung über das gesamte bürgerliche Recht, das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren;⁴
13) das Militärwesen des Reichs und die Kriegsmarine;
14) Maßregeln der Medizinal- und Veterinärpolizei;
15) die Bestimmungen über die Presse und das Vereinswesen.
2) Diese Aufzählung ist nicht abschließend; insbesondere kann ihr Umfang durch die „Kompetenz – Kompetenz “ des Reiches nach Artikel 78 der Verfassung durch einfaches Reichsgesetz (das im Bundesrat jedoch keine 14 Stimmen gegen sich haben darf) erweitert werden, ohne den Text der Verfassungsurkunde formal zu ändern („verfassungsdurchbrechende Gesetze“ ).
3) Der letzte Punkt wurde durch Gesetz vom 3.März 1873 (RGBl. S. 47) eingefügt.
4) Der Wortlaut wurde durch Gesetz vom 20. Dezember 1873 (RGBl. S. 379) neugefaßt.
Artikel 5
1) Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den Bundesrat und den Reichstag. Die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen ist zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend.
2) Bei Gesetzesvorschlägen über das Militärwesen, die Kriegsmarine und die im Artikel 35 bezeichneten Abgaben gibt, wenn im Bundesrate eine Meinungsverschiedenheit stattfindet, die Stimme des Präsidiums⁵ den Ausschlag, wenn sie sich für die Aufrechthaltung der bestehenden Einrichtungen ausspricht.
5) Eine „Präsidialstimme“ Preußens gibt es nicht. Gemeint sind die 17 preußischen Mitgliedschaftsstimmen, die einheitlich (als „Eine Stimme“ ) vom stimmführenden preußischen Bundesratsbevollmächtigten abzugeben sind .
III. Bundesrat.
Artikel 6
1) Der Bundesrat besteht aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes, unter welchen die Stimmführung sich in der Weise verteilt, daß Preußen mit den ehemaligen Stimmen von Hannover, Kurhessen, Holstein, Nassau und Frankfurt 17 Stimmen führt, Bayern 6 Stimmen, Sachsen 4 Stimmen, Württemberg 4 Stimmen, Baden 3 Stimmen, Hessen 3 Stimmen, Mecklenburg-Schwerin 2 Stimmen, Sachsen-Weimar 1 Stimme, Mecklenburg-Strelitz 1 Stimme, Oldenburg 1 Stimme, Braunschweig 2 Stimmen, Sachsen-Meiningen 1 Stimme, Sachsen-Altenburg 1 Stimme, Sachsen-Koburg-Gotha1 Stimme, Anhalt 1 Stimme, Schwarzburg-Rudolstadt 1 Stimme, Schwarzburg-Sondershausen 1 Stimme, Waldeck 1 Stimme, Reuß älterer Linie 1 Stimme, Reuß jüngerer Linie1 Stimme, Schaumburg-Lippe 1 Stimme, Lippe1 Stimme, Lübeck 1 Stimme, Bremen1 Stimme, Hamburg 1 Stimme, zusammen 58 Stimmen.
2) Jedes Mitglied des Bundes kann so viel Bevollmächtigte zum Bundesrate ernennen, wie es Stimmen hat, doch kann die Gesamtheit der zuständigen Stimmen nur einheitlich abgegeben werden.
Artikel 6a⁶
1) Elsaß-Lothringen führt im Bundesrate drei Stimmen, solange die Vorschriften in Art. II § 1, § 2 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über die Verfassung Elsaß-Lothringens vom 31. Mai 1911 in Kraft sind.
2) Die elsaß-lothringischen Stimmen werden nicht gezählt, wenn die Präsidialstimme7 nur durch den Hinzutritt dieser Stimmen die Mehrheit für sich erlangen oder im Sinne des Art. 7 Abs. 3 Satz 3 den Ausschlag geben würde. Das gleiche gilt bei der Beschlußfassung über Änderungen der Verfassung.
3) Elsaß-Lothringen gilt im Sinne des Art. 6 Abs. 2 und der Art. 7 und 8 als Bundesstaat.
6) Dieser Artikel wurde durch Gesetz vom 31. Mai 1911 (RGBl. S. 225) eingefügt.
Artikel 7
1) Der Bundesrat beschließt:
1. über die dem Reichstage zu machenden Vorlagen und die von demselben gefaßten Beschlüsse;
2. über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen, sofern nicht durch Reichsgesetz etwas Anderes bestimmt ist;
3. über Mängel, welche bei der Ausführung der Reichsgesetze oder der vorstehend erwähnten Vorschriften oder Einrichtungen hervortreten.
2) Jedes Bundesglied ist befugt, Vorschläge zu machen und in Vortrag zu bringen, und das Präsidium ist verpflichtet, dieselben der Beratung zu übergeben.
3) Die Beschlußfassung erfolgt, vorbehaltlich der Bestimmungen in den Artikeln 5, 37, und 78, mit einfacher Mehrheit. Nicht vertretene oder nicht instruierte Stimmen werden nicht gezählt. Bei Stimmengleichheit gibt die Präsidialstimme⁷ den Ausschlag.
4) Bei der Beschlußfassung über eine Angelegenheit, welche nach den Bestimmungen dieser Verfassung nicht dem ganzen Reiche gemeinschaftlich ist, werden die Stimmen nur derjenigen Bundesstaaten gezählt, welchen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist.
7) Siehe hier zu Artikel 5 Anmerkung 5.
Artikel 8
1) Der Bundesrat bildet aus seiner Mitte dauernde Ausschüsse
1. für das Landheer und die Festungen;
2. für das Seewesen;
3. für Zoll- und Steuerwesen;
4. für Handel und Verkehr;
5. für Eisenbahnen, Post und Telegraphen;
6. für Justizwesen;
7. für Rechnungswesen.
2) In jedem dieser Ausschüsse werden außer dem Präsidium mindestens vier Bundesstaaten vertreten sein, und führt innerhalb derselben jeder Staat nur Eine Stimme. In dem Ausschuß für das Landheer und die Festungen hat Bayern einen ständigen Sitz,⁸ die übrigen Mitglieder desselben, sowie die Mitglieder des Ausschusses für das Seewesen werden vom Kaiser ernannt; die Mitglieder der anderen Ausschüsse werden von dem Bundesrate gewählt. Die Zusammensetzung dieser Ausschüsse ist für jede Session des Bundesrates resp. mit jedem Jahre zu erneuern, wobei die ausscheidenden Mitglieder wieder wählbar sind.
3) Außerdem wird im Bundesrate aus den Bevollmächtigten der Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg und zwei, vom Bundesrate alljährlich zu wählenden Bevollmächtigten anderer Bundesstaaten ein Ausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten gebildet, in welchem Bayern den Vorsitz führt.
4) Den Ausschüssen werden die zu ihren Arbeiten nötigen Beamten zur Verfügung gestellt.
8) Aufgrund der Militärkonvention zwischen dem Norddeutschen Bund und dem Königreich Sachsen vom 07.02.1867 sowie der Militärkonvention zwischen dem Norddeutschen Bunde und dem Königreich Württemberg vom 21./ 25.11.1870 haben Sachsen und Württemberg ebenfalls einen ständigen Sitz in diesem Ausschuß inne.
Artikel 9
Jedes Mitglied des Bundesrates hat das Recht, im Reichstage zu erscheinen und muß daselbst auf Verlangen jederzeit gehört werden, um die Ansichten seiner Regierung zu vertreten, auch dann, wenn
dieselben von der Majorität des Bundesrates nicht adoptiert worden sind. Niemand kann gleichzeitig Mitglied des Bundesrates und des Reichstages sein.
Artikel 10
Dem Kaiser liegt es ob, den Mitgliedern des Bundesrates den üblichen diplomatischen Schutz zu gewähren.
IV. Präsidium.
Artikel 11
1) Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt. Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen.
2) Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist die Zustimmung des Bundesrates erforderlich, es sei denn, daß ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt.
3) Insoweit die Verträge mit fremden Staaten sich auf solche Gegenstände beziehen, welche nach Artikel 4 in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, ist zu ihrem Abschluß die Zustimmung des Bundesrates und zu ihrer Gültigkeit die Genehmigung des Reichstages erforderlich.
Artikel 12
Dem Kaiser steht es zu, den Bundesrat und den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen.
Artikel 13
Die Berufung des Bundesrates und des Reichstages findet alljährlich statt und kann der Bundesrat zur Vorbereitung der Arbeiten ohne den Reichstag, letzterer aber nicht ohne den Bundesrat berufen werden.
Artikel 14
Die Berufung des Bundesrates muß erfolgen, sobald sie von einem Drittel der Stimmenzahl verlangt wird.
Artikel 15
1) Der Vorsitz im Bundesrate und die Leitung der Geschäfte steht dem Reichskanzler zu, welcher vom Kaiser zu ernennen ist.
2) Der Reichskanzler kann sich durch jedes andere Mitglied des Bundesrates vermöge schriftlicher Substitution vertreten lassen.⁹
9) Die Vertretung des Reichskanzlers wurde geregelt durch das Gesetz betreffend die Stellvertretung des Reichskanzlers vom 17.März 1878 (RGBl. S. 7). Hiernach sind folgende Stellvertreter aufgestellt worden:
a ) der Generalstellvertreter (der Vizekanzler),
b ) der Staatssekretär des Auswärtigen,
c ) der Chef der Admiralität,
d ) der Staatssekretär für das Finanzwesen (Reichsschatz-Sekretär),
e) der Staatssekretär für das Post- und Telegraphenwesen (bis 1880 Generalpostmeister des Deutschen Reichs),
f ) der Staatssekretär für das Justizwesen,
g ) der Staatssekretär für die Verwaltung der Reichs -Eisenbahnen,
h ) der Staatssekretär des Innern.
Artikel 16
Die erforderlichen Vorlagen werden nach Maßgabe der Beschlüsse des Bundesrates im Namen des Kaisers an den Reichstag gebracht, wo sie durch Mitglieder des Bundesrates oder durch besondere von
letzterem zu ernennende Kommissarien vertreten werden.
Artikel 17
Dem Kaiser steht die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze und die Überwachung der Ausführung derselben zu. Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers werden im Namen des Reichs erlassen und bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt.
Artikel 18
Der Kaiser ernennt die Reichsbeamten, läßt dieselben für das Reich vereidigen und verfügt erforderlichen Falles deren Entlassung. Den zu einem Reichsamte¹⁰ berufenen Beamten eines Bundesstaates stehen, sofern nicht vor ihrem Eintritt in den Reichsdienst im Wege der Reichsgesetzgebung etwas Anderes bestimmt ist, dem Reiche gegenüber diejenigen Rechte zu, welche ihnen in ihrem Heimatslande aus ihrer dienstlichen Stellung zugestanden hatten.
10) Als Reichsämter wurden errichtet:
I. Zentralverwaltung (d . h . Stellen, in deren Tätigkeit der Reichskanzler jeder zeit einzugreifen befugt ist) :
a) das Reichsamt des Innern (bis 1879 Reichskanzleramt, das 1871 aus dem 1867 gegründeten Bundeskanzleramt hervorging) mit den Reichskommissariaten, dem statistischen Amt, der Normal – Eichungskommission, Gesundheitsamt und einer besonderen Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten unter einem Direktor,
b) das auswärtige Amt (seit 1871, auch heute noch Bezeichnung für das dt. Außenministerium),
c ) die Admiralität ( se it 1872),
d) das Reichs – Postamt (1875 bis 1880: General-Postamt),
e) das Reichs – Justizamt (seit 1876),
f) das Reichsamt für die Verwaltung der Reichs – Eisenbahnen (seit 1879),
g) das Reichs – Eisenbahnamt (seit 1873),
h) das Reichs – Schatzamt (seit 1879),
i) das Reichsbank – Direktorium (seit 1875),
j) das Reichswirtschaftsamt (seit 1917),
k) das Reichsarbeitsamt (seit 1918).II. Die selbständigen Finanzbehörden des Reichs, welche nur unter der „oberen Leitung“ des Reichskanzlers stehen:
a) der Rechnungshof (seit 1871),
b) das Reichsbank-Kuratorium und die Reichsbank – Kommissäre (seit 1875),
c) die Reichsschulden – Verwaltung und die Reichsschulden – Kommission,
d) die Verwaltung des Reichsinvalidenfonds .III. die Richterbehörden des Reichs :
a) das Reichsgericht (seit 1879),
b) die Reichskonsulargerichte,
c) die Disziplinargerichte,
d) die Verwaltungsgerichte; das Bundesamt für Heimatwesen, das verstärkte Reichs – Eisenbahnamt, das Reichs – Patentamt, das Reichs – Oberseeamt, die Reichs – Rayonkommission, die auf Grund des Reichsgesetzes vom 21. Oktober 1878 gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie gebildete Reichskommission (1878 bis 1890), das Reichsversicherungsamt.
Artikel 19
Wenn Bundesglieder ihre verfassungsmäßigen Bundespflichten nicht erfüllen, können sie dazu im Wege der Exekution angehalten werden. Diese Exekution ist vom Bundesrate zu beschließen und vom Kaiser zu vollstrecken.
V. Reichstag.
Artikel 20
1) Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor.
2) Bis zu der gesetzlichen Regelung, welche im § 5 des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 (Bundesgesetzbl. 1869 S. 145) vorbehalten ist, werden in Bayern 48, in Württemberg 17, in Elsaß-Lothringen 15,¹¹ in Baden 14, in Hessen südlich des Main 6 Abgeordnete gewählt, und beträgt demnach die Gesamtzahl der Abgeordneten 397.
11) Durch §3 des Reichsgesetzes betreffend die Einführung der Verfassung des Deutschen Reichs in Elsaß-Lothringen vom 25. Juni 1873 (RGBl. S. 161) wurden für Elsaß-Lothringen 15 Abgeordnete bestimmt. Dadurch hat sich die Gesamtanzahl der Abgeordneten von 382 auf 397 erhöht.
Artikel 21
1) Beamte bedürfen keines Urlaubs zum Eintritt in den Reichstag.
2) Wenn ein Mitglied des Reichstages ein besoldetes Reichsamt oder in einem Bundesstaat ein besoldetes Staatsamt annimmt oder im Reichs- oder Staatsdienste in ein Amt eintritt, mit welchem ein höherer Rang oder ein höheres Gehalt verbunden ist, so verliert es Sitz und Stimme in dem Reichstag und kann seine Stelle in demselben nur durch neue Wahl wieder erlangen.
Artikel 22
Die Verhandlungen des Reichstages sind öffentlich. Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei.
Artikel 23
Der Reichstag hat das Recht, innerhalb der Kompetenz des Reichs Gesetze vorzuschlagen und an ihn gerichtete Petitionen dem Bundesrate resp. Reichskanzler zu überweisen.
Artikel 24
Die Legislaturperiode des Reichstages dauert fünf¹² Jahre. Zur Auflösung des Reichstages während derselben ist ein Beschluß des Bundesrates unter Zustimmung des Kaisers erforderlich.
12) Durch Gesetz vom 19. März 1888 (RGBl. S. 110) wurde die Legislaturperiode in Art. 24 von drei auf fünf Jahre erhöht.
Artikel 25
Im Falle der Auflösung¹³ des Reichstages müssen innerhalb eines Zeitraumes von 60 Tagen nach derselben die Wähler und innerhalb eines Zeitraumes von 90 Tagen nach der Auflösung der Reichstag versammelt werden.
13) Bis 1918 kam es verfassungsgemäß zu 4 Auflösungen des Reichstages:
a) am 24. Mai 1878 ,
b) am 14. Januar 1887,
c) am 6. Mai 1893,
d) am 13. Dezember 1906.
Artikel 26
Ohne Zustimmung des Reichstages darf die Vertagung desselben die Frist von 30 Tagen nicht übersteigen und während derselben Session nicht wiederholt werden.
Artikel 27
Der Reichstag prüft die Legitimation seiner Mitglieder und entscheidet darüber. Er regelt seinen Geschäftsgang und seine Disziplin durch eine Geschäftsordnung¹⁴ und erwählt seinen Präsidenten, seine Vizepräsidenten und Schriftführer.
14) Geschäftsordnung des Reichstages vom 10. Februar 1876.
Artikel 28
1) Der Reichstag beschließt nach absoluter Stimmenmehrheit. Zur Gültigkeit der Beschlußfassung ist die Anwesenheit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich.
2) (Aufgehoben)¹⁵
15) Art. 28 Absatz 2 ist durch Gesetz vom 24. Februar 1873 (RGBl. S. 45) aufgehoben worden.
Er lautete: „Bei der Beschlußfassung über eine Angelegenheit, welche nach den Bestimmungen dieser Verfassung nicht dem ganzen Reiche gemeinschaftlich ist, werden die Stimmen nur derjenigen Mitglieder gezählt, die in Bundesstaaten gewählt sind, welchen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist.“
Artikel 29
Die Mitglieder des Reichstages sind Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden.
Artikel 30
Kein Mitglied des Reichstages darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes getanen Äußerungen gerichtlich oder disziplinarisch verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden.
Artikel 31
1) Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied desselben während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Ausübung der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird.
2) Gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung wegen Schulden erforderlich.
3) Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und jede Untersuchungs- oder Zivilhaft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben.
Artikel 32
Die Mitglieder des Reichstages dürfen als solche keine Besoldung beziehen. Sie erhalten eine Entschädigung nach Maßgabe des Gesetzes.¹⁶
16) Diesen Wortlaut erhielt Art. 32 durch Gesetz vom 21. Mai 1906 (RGBl. S. 467). Dazu Reichsgesetz betreffend die Gewährung einer Entschädigung an die Mitglieder des deutschen Reichstags vom 21. Mai 1906 (RGBl. S. 468–470), geändert durch Reichsgesetz vom 22. Juni 1918 ( RG Bl. S. 667).
VI. Zoll- und Handelswesen.
Artikel 33
1) Deutschland bildet ein Zoll- und Handelsgebiet, umgeben von gemeinschaftlicher Zollgrenze. Ausgeschlossen bleiben die wegen ihrer Lage zur Einschließung in die Zollgrenze nicht geeigneten einzelnen Gebietsteile.
2) Alle Gegenstände, welche im freien Verkehr eines Bundesstaates befindlich sind, können in jeden anderen Bundesstaat eingeführt und dürfen in letzterem einer Abgabe nur insoweit unterworfen werden, als daselbst gleichartige inländische Erzeugnisse einer inneren Steuer unterliegen.
Artikel 34
Die Hansestädte Bremen und Hamburg mit einem dem Zweck entsprechenden Bezirke ihres oder des umliegenden Gebietes bleiben als Freihäfen außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgrenze, bis sie ihren Einschluß in dieselbe beantragen.¹⁷
17) Hamburg und Bremen wurden auf eigenen Antrag hin mit dem 15. Oktober 1888 in das Zollgebiet einbezogen (die Freihafengebiete wurden auf die Hafengebiete selbst beschränkt); siehe Reichsgesetz betreffend die Ausführung des Anschlusses der freien und Hansestadt Hamburg an das deutsche Zollgebiet vom 16. Februar 1882 (RGBl. S. 39) und Reichsgesetz betreffend den Beitrag des Reichs zu den Kosten des Anschlusses der freien Hansestadt Bremen an das deutsche Zollgebiet vom 31. März 1885 (RGBl. S. 79).
Artikel 35
1) Das Reich ausschließlich hat die Gesetzgebung über das gesamte Zollwesen, über die Besteuerung des im Bundesgebiete gewonnenen Salzes und Tabaks, bereiteten Branntweins und Bieres und aus Rüben oder anderen inländischen Erzeugnissen dargestellten Zuckers und Sirups, über den gegenseitigen Schutz der in den einzelnen Bundesstaaten erhobenen Verbrauchsabgaben gegen Hinterziehungen, sowie über die Maßregeln, welche in den Zollausschlüssen zur Sicherung der gemeinsamen Zollgrenze erforderlich sind.
2) In Bayern, Württemberg und Baden bleibt die Besteuerung des inländischen Branntweins und Bieres der Landesgesetzgebung vorbehalten. Die Bundesstaaten werden jedoch ihr Bestreben darauf richten, eine Übereinstimmung der Gesetzgebung über die Besteuerung auch dieser Gegenstände herbeizuführen.
Artikel 36
1) Die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchssteuern (Art. 35) bleibt jedem Bundesstaate, soweit derselbe sie bisher ausgeübt hat, innerhalb seines Gebietes überlassen.
2) Der Kaiser überwacht die Einhaltung des gesetzlichen Verfahrens durch Reichsbeamte, welche er den Zoll- oder Steuerämtern und den Direktivbehörden der einzelnen Staaten, nach Vernehmung des Ausschusses des Bundesrates für Zoll- und Steuerwesen, beiordnet.
3) Die von diesen Beamten über Mängel bei der Ausführung der gemeinschaftlichen Gesetzgebung (Art. 35) gemachten Anzeigen werden dem Bundesrate zur Beschlußnahme vorgelegt.
Artikel 37
Bei der Beschlußnahme über die zur Ausführung der gemeinschaftlichen Gesetzgebung (Art. 35) dienenden Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen gibt die Stimme des Präsidiums alsdann den Ausschlag, wenn sie sich für Aufrechthaltung der bestehenden Vorschrift oder Einrichtung ausspricht.
Artikel 38
1) Der Ertrag der Zölle und der anderen in Artikel 35 bezeichneten Abgaben, letzterer soweit sie der Reichsgesetzgebung unterliegen, fließt in die Reichskasse. Dieser Ertrag besteht aus der gesamten von den Zöllen und den übrigen Abgaben aufgekommenen Einnahme nach Abzug:
- der auf Gesetzen oder allgemeinen Verwaltungsvorschriften beruhenden Steuervergütungen und Ermäßigungen,
- der Rückerstattungen für unrichtige Erhebungen,
- der Erhebungs- und Verwaltungskosten, und zwar:
a) bei den Zöllen der Kosten, welche an den gegen das Ausland gelegenen Grenzen und in dem Grenzbezirke für den Schutz und die Erhebung der Zölle erforderlich sind,
b) bei der Salzsteuer der Kosten, welche zur Besoldung der mit Erhebung und Kontrolierung dieser Steuer auf den Salzwerken beauftragten Beamten aufgewendet werden,
c) bei der Rübenzuckersteuer und Tabaksteuer der Vergütung, welche nach den jeweiligen Beschlüssen des Bundesrates den einzelnen Bundesregierungen für die Kosten der Verwaltung dieser Steuern zu gewähren ist,
d) bei den übrigen Steuern mit fünfzehn Prozent der Gesamteinnahme.¹⁸
18) Artikel 38 Absatz 2 Ziffer 3d wurde hinsichtlich der Brausteuer abgeändert durch § 5 des Gesetzes vom 3. Juni 1906 (RGBl. S. 620): „ Die Vorschrift des Ar t. 38 Abs. 2 Ziffer 3d der Reichsverfassung wird in Ansehung der Brausteuer aufgehoben. Die den Bundesstaaten zu gewährende Vergütung der Erhebungs – und Verwaltungskosten der Brausteuer wird durch den Bundesrat festgesetzt.“
Artikel 39
1) Die von den Erhebungsbehörden der Bundesstaaten nach Ablauf eines jeden Vierteljahres aufzustellenden Quartal-Extrakte und die nach dem Jahres- und Bücherschlusse aufzustellenden Finalabschlüsse über die im Laufe des Vierteljahres beziehungsweise während des Rechnungsjahres fällig gewordenen Einnahmen an Zöllen und nach Artikel 38 zur Reichskasse fließenden Verbrauchsabgaben werden von den Direktivbehörden der Bundesstaaten, nach vorangegangener Prüfung, in Hauptübersichten zusammengestellt, in welchen jede Abgabe gesondert nachzuweisen ist, und es werden diese Übersichten an den Ausschuß des Bundesrates für das Rechnungswesen eingesandt.
2) Der letztere stellt auf Grund dieser Übersichten von drei zu drei Monaten den von der Kasse jedes Bundesstaates der Reichskasse schuldigen Betrag vorläufig fest und setzt von dieser Feststellung den Bundesrat und die Bundesstaaten in Kenntnis, legt auch alljährlich die schließliche Feststellung jener Beträge mit seinen Bemerkungen dem Bundesrate vor. Der Bundesrat beschließt über diese Feststellung.
Artikel 40
Die Bestimmungen in dem Zollvereinigungsverträge vom 8. Juli 1867 bleiben in Kraft, soweit sie nicht durch die Vorschriften dieser Verfassung abgeändert sind und solange sie nicht auf dem im Artikel 7, beziehungsweise 78 bezeichneten Wege abgeändert werden.
VII. Eisenbahnwesen.
Artikel 41
1) Eisenbahnen, welche im Interesse der Verteidigung Deutschlands oder im Interesse des gemeinsamen Verkehrs für notwendig erachtet werden, können kraft eines Reichsgesetzes auch gegen den Widerspruch der Bundesglieder, deren Gebiet die Eisenbahnen durchschneiden, unbeschadet der Landeshoheitsrechte, für Rechnung des Reichs angelegt oder an Privatunternehmer zur Ausführung konzessioniert und mit dem Expropriationsrechte ausgestattet werden.
2) Jede bestehende Eisenbahnverwaltung ist verpflichtet, sich den Anschluß neu angelegter Eisenbahnen auf Kosten der letzteren gefallen zu lassen.
3) Die gesetzlichen Bestimmungen, welche bestehenden Eisenbahn-Unternehmungen ein Widerspruchsrecht gegen die Anlegung von Parallel- oder Konkurrenzbahnen einräumen, werden, unbeschadet bereits erworbener Rechte, für das ganze Reich hierdurch aufgehoben. Ein solches Widerspruchsrecht kann auch in den künftig zu erteilenden Konzessionen nicht weiter verliehen werden.
Artikel 42
Die Bundesregierungen verpflichten sich, die Deutschen Eisenbahnen im Interesse des allgemeinen Verkehrs wie ein einheitliches Netz verwalten und zu diesem Behuf auch die neu herzustellenden Bahnen nach einheitlichen Normen anlegen und ausrüsten zu lassen.
Artikel 43
Es sollen demgemäß in tunlichster Beschleunigung übereinstimmende Betriebseinrichtungen getroffen, insbesondere gleiche Bahnpolizei-Reglements¹⁹ eingeführt werden. Das Reich hat dafür Sorge zu tragen, daß die Eisenbahnverwaltungen die Bahnen jederzeit in einem die nötige Sicherheit gewährenden baulichen Zustande erhalten und dieselben mit Betriebsmaterial so ausrüsten, wie das Verkehrsbedürfnis es erheischt.
19) Bahnpolizei – Reglement für die Eisenbahnen Deutschlands vom 30. November 1885 (RG Bl. S. 289).
Artikel 44
Die Eisenbahnverwaltungen sind verpflichtet, die für den durchgehenden Verkehr und zur Herstellung ineinander greifender Fahrpläne nötigen Personenzüge mit entsprechender Fahrgeschwindigkeit, desgleichen die zur Bewältigung des Güterverkehrs nötigen Güterzüge einzuführen, auch direkte Expeditionen im Personen- und Güterverkehr, unter Gestattung des Überganges der Transportmittel von einer Bahn auf die andere, gegen die übliche Vergütung einzurichten.
Artikel 45
Dem Reiche steht die Kontrolle über das Tarifwesen zu. Dasselbe wird namentlich dahin wirken:
1.) daß baldigst auf allen Deutschen Eisenbahnen übereinstimmende Betriebsreglements eingeführt werden;²⁰
2.) daß die möglichste Gleichmäßigkeit und Herabsetzung der Tarife erzielt, insbesondere, daß bei größeren Entfernungen für den Transport von Kohlen, Koks, Holz, Erzen, Steinen, Salz, Roheisen, Düngungsmitteln und ähnlichen Gegenständen ein dem Bedürfnis der Landwirtschaft und Industrie entsprechender ermäßigter Tarif, und zwar zunächst tunlichst der Einpfennig-Tarif eingeführt werde.²¹
20) Gemäß Artikel 45 Nr.1 erging das Betriebsreglement für die Eisenbahnen Deutschlands am 11. Mai 1874 (RGBl. S. 84) und trat am 1. Juli 1874 in Kraft.
21) Bezüglich der Württembergischen Eisenbahnen ist in der Verhandlung vom 25. November 1870 über den Beitritt Württembergs zu der zwischen dem Norddeutschen Bunde, Baden und Hessen vereinbarten Verfassung des Deutschen Bundes (BGBl. S. 657) unter 2. zum Artikel 45 der Verfassung anerkannt, daß bei ihren Bau-, Betriebs- und Verkehrsverhältnissen nicht alle im Artikel 45 aufgeführte n Transportgegenstände in allen Gattungen von Verkehren zum Einpfennigsatz befördert werden können.
Artikel 46
1) Bei eintretenden Notständen, insbesondere bei ungewöhnlicher Teuerung der Lebensmittel, sind die Eisenbahnverwaltungen verpflichtet, für den Transport, namentlich von Getreide, Mehl, Hülsenfrüchten und Kartoffeln, zeitweise einen dem Bedürfnis entsprechenden, von dem Kaiser auf Vorschlag des betreffenden Bundesrats-Ausschusses festzustellenden, niedrigen Spezialtarif einzuführen, welcher jedoch nicht unter den niedrigsten auf der betreffenden Bahn für Rohprodukte geltenden Satz herabgehen darf.
2) Die vorstehend, sowie die in den Artikeln 42 bis 45 getroffenen Bestimmungen sind auf Bayern nicht anwendbar.
3) Dem Reiche steht jedoch auch Bayern gegenüber das Recht zu, im Wege der Gesetzgebung einheitliche Normen für die Konstruktion und Ausrüstung der für die Landesverteidigung wichtigen Eisenbahnen aufzustellen.
Artikel 47
Den Anforderungen der Behörden des Reichs in Betreff der Benutzung der Eisenbahnen zum Zweck der Verteidigung Deutschlands haben sämtliche Eisenbahnverwaltungen unweigerlich Folge zu leisten. Insbesondere ist das Militär und alles Kriegsmaterial zu gleichen ermäßigten Sätzen zu befördern.
VIII. Post- und Telegraphenwesen.
Artikel 48
1) Das Postwesen und das Telegraphenwesen werden für das gesamte Gebiet des Deutschen Reichs als einheitliche Staatsverkehrsanstalten eingerichtet und verwaltet.
2) Die im Artikel 4. vorgesehene Gesetzgebung des Reichs in Post-und Telegraphen-Angelegenheiten erstreckt sich nicht auf diejenigen Gegenstände, deren Regelung nach den in der Norddeutschen Post-und Telegraphen-Verwaltung maßgebend gewesenen Grundsätzen der reglementarischen Festsetzung oder administrativen Anordnung überlassen ist.
Artikel 49
Die Einnahmen des Post- und Telegraphenwesens sind für das ganze Reich gemeinschaftlich. Die Ausgaben werden aus den gemeinschaftlichen Einnahmen bestritten. Die Überschüsse fließen in die Reichskasse (Abschnitt XII.).
Artikel 50
1) Dem Kaiser gehört die obere Leitung der Post- und Telegraphenverwaltung an. Die von ihm bestellten Behörden haben die Pflicht und das Recht, dafür zu sorgen, daß Einheit in der Organisation der Verwaltung und im Betriebe des Dienstes, sowie in der Qualifikation der Beamten hergestellt und erhalten wird.
2) Dem Kaiser steht der Erlaß der reglementarischen Festsetzungen und allgemeinen administrativen Anordnungen, sowie die ausschließliche Wahrnehmung der Beziehungen zu anderen Post- und Telegraphenverwaltungen zu.
3) Sämtliche Beamte der Post- und Telegraphenverwaltung sind verpflichtet, den Kaiserlichen Anordnungen Folge zu leisten. Diese Verpflichtung ist in den Diensteid aufzunehmen.
4) Die Anstellung der bei den Verwaltungsbehörden der Post und Telegraphie in den verschiedenen Bezirken erforderlichen oberen Beamten (z. B. der Direktoren, Räte, Ober-Inspektoren), ferner die Anstellung der zur Wahrnehmung des Aufsichts- u. s. w. Dienstes in den einzelnen Bezirken als Organe der erwähnten Behörden fungierenden Post- und Telegraphenbeamten (z. B. Inspektoren, Kontrolleure) geht für das ganze Gebiet des Deutschen Reichs vom Kaiser aus, welchem diese Beamten den Diensteid leisten. Den einzelnen Landesregierungen wird von den in Rede stehenden Ernennungen, soweit dieselben ihre Gebiete betreffen, Behufs der landesherrlichen Bestätigung und Publikation rechtzeitig Mitteilung gemacht werden.
5) Die anderen bei den Verwaltungsbehörden der Post und Telegraphie erforderlichen Beamten, sowie alle für den lokalen und technischen Betrieb bestimmten, mithin bei den eigentlichen Betriebsstellen fungierenden Beamten u. s. w. werden von den betreffenden Landesregierungen angestellt.
6) Wo eine selbständige Landespost- resp. Telegraphenverwaltung nicht besteht, entscheiden die Bestimmungen der besonderen Verträge.
Artikel 51
1) Bei Überweisung des Überschusses der Postverwaltung für allgemeine Reichszwecke (Art. 49) soll, in Betracht der bisherigen Verschiedenheit der von den Landes-Postverwaltungen der einzelnen Gebiete erzielten Reineinnahmen, zum Zwecke einer entsprechenden Ausgleichung während der unten festgesetzten Übergangszeit folgendes Verfahren beobachtet werden.
2) Aus den Postüberschüssen, welche in den einzelnen Postbezirken während der fünf Jahre 1861 bis 1865 aufgekommen sind, wird ein durchschnittlicher Jahresüberschuß berechnet, und der Anteil, welchen jeder einzelne Postbezirk an dem für das gesamte Gebiet des Reichs sich darnach herausstellenden Postüberschüsse gehabt hat, nach Prozenten festgestellt.
3) Nach Maßgabe des auf diese Weise festgestellten Verhältnisses werden den einzelnen Staaten während der auf ihren Eintritt in die Reichs-Postverwaltung folgenden acht Jahre die sich für sie aus den im Reiche aufkommenden Postüberschüssen ergebenden Quoten auf ihre sonstigen Beiträge zu Reichszwecken zu Gute gerechnet.
4) Nach Ablauf der acht Jahre hört jene Unterscheidung auf, und fließen die Postüberschüsse in ungeteilter Aufrechnung nach dem im Artikel 49 enthaltenen Grundsatz der Reichskasse zu.
5) Von der während der vorgedachten acht Jahre für die Hansestädte sich herausstellenden Quote des Postüberschusses wird alljährlich vorweg die Hälfte dem Kaiser zur Disposition gestellt zu dem Zwecke, daraus zunächst die Kosten für die Herstellung normaler Posteinrichtungen in den Hansestädten zu bestreiten.
Artikel 52
1) Die Bestimmungen in den vorstehenden Artikeln 48 bis 51 finden auf Bayern und Württemberg keine Anwendung. An ihrer Stelle gelten für beide Bundesstaaten folgende Bestimmungen.
2) Dem Reiche ausschließlich steht die Gesetzgebung über die Vorrechte der Post und Telegraphie, über die rechtlichen Verhältnisse beider Anstalten zum Publikum, über die Portofreiheiten und das Posttaxwesen, jedoch ausschließlich der reglementarischen und Tarif-Bestimmungen für den internen Verkehr innerhalb Bayerns, beziehungsweise Württembergs, sowie, unter gleicher Beschränkung, die Feststellung der Gebühren für die telegraphische Korrespondenz zu.
3) Ebenso steht dem Reiche die Regelung des Post- und Telegraphenverkehrs mit dem Auslande zu, ausgenommen den eigenen unmittelbaren Verkehr Bayerns, beziehungsweise Württembergs mit seinen dem Reiche nicht angehörenden Nachbarstaaten, wegen dessen Regelung es bei der Bestimmung im Artikel 49 des Postvertrages vom 23. November 1867 bewendet.
4) An den zur Reichskasse fließenden Einnahmen des Post- und Telegraphenwesens haben Bayern und Württemberg keinen Teil.
IX. Marine und Schiffahrt.
Artikel 53
1) Die Kriegsmarine des Reichs ist eine einheitliche unter dem Oberbefehl des Kaisers. Die Organisation und Zusammensetzung derselben liegt dem Kaiser ob, welcher die Offiziere und Beamten der Marine ernennt, und für welchen dieselben nebst den Mannschaften eidlich in Pflicht zu nehmen sind.
2) Der Kieler Hafen und der Jadehafen sind Reichskriegshäfen.
3) Der zur Gründung und Erhaltung der Kriegsflotte und der damit zusammenhängenden Anstalten erforderliche Aufwand wird aus der Reichskasse bestritten.
4) Die gesamte seemännische Bevölkerung des Reichs, einschließlich des Maschinenpersonals und der Schiffshandwerker, ist vom Dienste im Landheere befreit, dagegen zum Dienste in der Kaiserlichen Marine verpflichtet.
5) (Aufgehoben.)²²
22) Art. 53 wurde durch das Gesetz betreffend die Ersatzverteilung vom 26. Mai 1893 (RGBl. S. 1 8 5 – 1 8 6) neu gefaßt und Abs. 5 aufgehoben. Die Regelung der Ersatzverteilung erfolgt seit her durch Art. II §1 besagten Gesetzes.
Artikel 54
1) Die Kauffahrteischiffe aller Bundesstaaten bilden eine einheitliche Handelsmarine.
2) Das Reich hat das Verfahren zur Ermittlung der Ladungsfähigkeit der Seeschiffe zu bestimmen, die Ausstellung der Meßbriefe, sowie der Schiffszertifikate zu regeln und die Bedingungen festzustellen, von welchen die Erlaubnis zur Führung eines Seeschiffes abhängig ist.
3) In den Seehäfen und auf allen natürlichen und künstlichen Wasserstraßen der einzelnen Bundesstaaten werden die Kauffahrteischiffe sämtlicher Bundesstaaten gleichmäßig zugelassen und behandelt.²³
4) Auf natürlichen Wasserstraßen dürfen Abgaben nur für solche Anstalten (Werke und Einrichtungen) erhoben werden, die zur Erleichterung des Verkehrs bestimmt sind. Sie dürfen bei staatlichen und kommunalen Anstalten die zur Herstellung und Erhaltung erforderlichen Kosten nicht übersteigen. Die Herstellungs- und Unterhaltungskosten für Anstalten, die nicht nur zur Erleichterung des Verkehrs, sondern auch zur Förderung anderer Zwecke und Interessen bestimmt sind, dürfen nur zu einem verhältnismäßigen Anteil durch Schiffahrtsabgaben aufgebracht werden. Als Kosten der Herstellung gelten die Zinsen und Tilgungsbeträge für die aufgewendeten Kapitalien.²³
5) Die Vorschriften des Abs. 4 finden auch Anwendung auf die Abgaben, die für künstliche Wasserstraßen und für Anstalten an solchen sowie in Häfen erhoben werden.
6) Der Bemessung von Befahrungsabgaben können im Bereiche der Binnenschiffahrt die Gesamtkosten für eine Wasserstraße, ein Stromgebiet oder ein Wasserstraßennetz zugrunde gelegt werden.
7) Auf die Flößerei finden diese Bestimmungen insoweit Anwendung, als sie auf schiffbaren Wasserstraßen betrieben wird.
8) Auf fremde Schiffe oder deren Ladungen andere oder höhere Abgaben zu legen, als von den Schiffen der Bundesstaaten oder deren Ladungen zu entrichten sind, steht keinem Einzelstaate, sondern nur dem Reiche zu.
23) Durch Gesetz betreffend den Ausbau der deutschen Wasserstraßen und die Erhebung von Schiffahrtsabgaben vom 24.12.1911 (RGBl. S. 1137) wurde Abs. 3 Satz 2 gestrichen, Abs. 4 aufgehoben und durch die jetzigen Abs. 4 bis 7 ersetzt.
Artikel 55
Die Flagge der Kriegs- und Handelsmarine ist schwarz-weiß-rot.
X. Konsulatwesen.
Artikel 56
1) Das gesamte Konsulatwesen des Deutschen Reichs steht unter der Aufsicht des Kaisers, welcher die Konsuln, nach Vernehmung des Ausschusses des Bundesrates für Handel und Verkehr, anstellt.
2) In dem Amtsbezirk der Deutschen Konsuln dürfen neue Landeskonsulate nicht errichtet werden.Die Deutschen Konsuln üben für die in ihrem Bezirk nicht vertretenen Bundesstaaten die Funktionen eines Landeskonsuls aus. Die sämtlichen bestehenden Landeskonsulate werden aufgehoben, sobald die Organisation der Deutschen Konsulate dergestalt vollendet ist, daß die Vertretung der Einzelinteressen aller Bundesstaaten als durch die Deutschen Konsulate gesichert von dem Bundesrate anerkannt wird.
XI. Reichskriegswesen.
Artikel 57
Jeder Deutsche ist wehrpflichtig und kann sich in Ausübung dieser Pflicht nicht vertreten lassen.
Artikel 58
Die Kosten und Lasten des gesamten Kriegswesens des Reichs sind von allen Bundesstaaten und ihren Angehörigen gleichmäßig zu tragen, so daß weder Bevorzugungen, noch Prägravationen einzelner Staaten oder Klassen grundsätzlich zulässig sind. Wo die gleiche Verteilung der Lasten sich in natura nicht herstellen läßt, ohne die öffentliche Wohlfahrt zu schädigen, ist die Ausgleichung nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit im Wege der Gesetzgebung festzustellen.
Artikel 59
1) Jeder wehrfähige Deutsche gehört sieben Jahre lang, in der Rgel vom vollendeten zwanzigsten bis zum beginnenden achtundzwanzigsten Lebensjahre, dem stehenden Heere, die folgenden fünf Lebensjahre der Landwehr ersten Aufgebots und sodann bis zum 31. März des Kalenderjahres, in welchem das neununddreißigste Lebensjahr vollendet wird, der Landwehr zweiten Aufgebots an.²⁴
2) Während der Dauer der Dienstpflicht im stehenden Heere sind die Mannschaften der Kavallerie und reitenden Feldartillerie die ersten drei, alle übrigen Mannschaften die ersten zwei Jahre zum ununterbrochenen Dienste bei den Fahnen verpflichtet.
3) In Bezug auf die Auswanderung der Reservisten sollen lediglich diejenigen Bestimmungen maßgebend sein, welche für die Auswanderung der Landwehrmänner gelten.
24) Durch Gesetz vom 15. April 1905 (RGBl. S. 249–250) wurde der frühere Abs. 1 aufgehoben und durch die jetzigen Absätze 1 und 2 ersetzt.
Artikel 60
Die Friedens-Präsenzstärke des Deutschen Heeres wird bis zum 31. Dezember 1871 auf ein Prozent der Bevölkerung von 1867 normiert, und wird pro rata derselben von den einzelnen Bundesstaaten gestellt. Für die spätere Zeit wird die Friedens-Präsenzstärke des Heeres im Wege der Reichsgesetzgebung festgestellt.²⁵
25) Durch Gesetz vom 9. Dezember 1871 (RGBl. S. 413) wurde das Provisorium der Artikel 60 und 62 bis zum 31. Dezember 1874 verlängert. Späterhin ergingen bezüglich der Festsetzung der Friedens – Präsenzstärke des Heeres weitere Gesetze wie folgt: Gesetz vom 2. Ma i 1874 (RG Bl. S. 4 5); Gesetz vom 6. Mai 1880 (RGBl. S. 103); Gesetz vom 11. März 1887 (RGBl. S. 140); Gesetz vom 15. Mai 1890 (RGBl. S. 233); Gesetz vom 3. August 1893 (RGBl. S. 233); Gesetz vom 25. März 1899 (RGBl. S. 213); Gesetz vom 22. Februa r 1904 (RGBl. S. 65); Gesetz vom 15. Mai 1905 (RGBl. S. 247); Gesetz vom 25. März 1911 (RGBl. 99); Ergänzungsgesetz vom 14. Juni 1912 (RGBl. S. 389); Ergänzungsgesetz vom 3. Juli 1913 (RGBl. S. 496).
Artikel 61
1) Nach Publikation dieser Verfassung ist in dem ganzen Reiche die gesamte Preußische Militärgesetzgebung ungesäumt einzuführen, sowohl die Gesetze selbst, als die zu ihrer Ausführung, Erläuterung oder Ergänzung erlassenen Reglements, Instruktionen und Reskripte, namentlich also das Militärstrafgesetzbuch vom 3. April 1845,²⁶ die Militärstrafgerichtsordnung vom 3. April 1845,²⁷ die Verordnung über die Ehrengerichte vom 20. Juli 1843, die Bestimmungen über Aushebung, Dienstzeit, Servis- und Verpflegungswesen, Einquartierung, Ersatz von Flurbeschädigungen, Mobilmachung u. s. w. Für Krieg und Frieden. Die Militärkirchenordnung ist jedoch ausgeschlossen.
2) Nach gleichmäßiger Durchführung der Kriegsorganisation des Deutschen Heeres wird ein umfassendes Reichsmilitärgesetz dem Reichstage und dem Bundesrate zur verfassungsmäßigen Beschlußfassung vorgelegt werden.²⁸
26) Das preußische Militair-Strafgesetzbuch vom 3. April 1845 wurde ersetzt durch das Reichsmilitärstrafgesetzbuch vom 20. Juni 1872 (RGBl. S. 175).
27) Die preußische Militair-Strafgerichtsordnung vom 3. April 1845 wurde ersetzt durch die Reichsmilitärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 (RGBl. S. 1189).
28) Dadurch ergingen folgende Reichsgesetze :
a) das Wehrgesetz vom 9. November 1867 (BGBl. S. 131); in Württemberg, Baden und Hessen südlich des Mains eingeführt durch Art. 80 der Verfassung des Deutschen Bundes, in Bayern durch Reichsgesetz vom 24. November 1871 (RGBl. S. 398); wie auch die Neufassung des Wehrgesetzes vom 11. Februar 1888 (RGBl. S. 11),
b) das Quartierleistungsgesetz vom 25. Juni 1868 (BGBl. S. 523); in Baden eingeführt durch Reichsgesetz vom 22. November 1871 (RGBl. S. 400), in Bayern und Württemberg eingeführt durch Reichsgesetz vom 9. Februar 1875 (RGBl. S. 41, 48),
c) das Reichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1874 (RGBl. S. 45),
d) das Landsturmgesetz vom 12. Februar 1875 (RGBl. S . 63),
e) das Kontrollgesetz vom 15. Februar 1875 (RGBl. S. 65),
f) die Deutsche Wehrordnung vom 22. November 1888,
g) das Rayongesetz vom 21. Dezember 1871 (RGBl. S. 459),
h) das Kriegsleistungsgesetz vom 13. Juni 1871 (RGBl. S. 129),
i) das Naturalleistungsgesetz vom 13. Februar 1875 (RGBl. S. 52).
Artikel 62
1) Zur Bestreitung des Aufwandes für das gesamte Deutsche Heer und die zu demselben gehörigen Einrichtungen sind bis zum 31. Dezember 1871 dem Kaiser jährlich sovielmal 225 Thaler, in Worten zweihundertfünfundzwanzig Thaler, als die Kopfzahl der Friedensstärke des Heeres nach Artikel 60 beträgt, zur Verfügung zu stellen. Vergl. Abschnitt XII.
2) Nach dem 31. Dezember 1871 müssen diese Beiträge von den einzelnen Staaten des Bundes zur Reichskasse fortgezahlt werden. Zur Berechnung derselben wird die im Artikel 60 interimistisch festgestellte Friedens-Präsenzstärke so lange festgehalten, bis sie durch ein Reichsgesetz abgeändert ist.²⁹
3) Die Verausgabung dieser Summe für das gesamte Reichsheer und dessen Einrichtungen wird durch das Etatgesetz festgestellt.
4) Bei der Feststellung des Militärausgabeetats wird die auf Grundlage dieser Verfassung gesetzlich feststehende Organisation des Reichsheeres zu Grunde gelegt.
29) Siehe Artikel 60 Anmerkungen 25.
Artikel 63
1) Die gesamte Landmacht des Reichs wird ein einheitliches Heer bilden, welches in Krieg und Frieden unter dem Befehle des Kaisers steht.
2) Die Regimenter etc. führen fortlaufende Nummern durch das ganze Deutsche Heer. Für die Bekleidung sind die Grundfarben und der Schnitt der Königlich Preußischen Armee maßgebend. Dem betreffenden Kontingentsherrn bleibt es überlassen, die äußeren Abzeichen (Kokarden etc.) zu bestimmen.
3) Der Kaiser hat die Pflicht und das Recht, dafür Sorge zu tragen, daß innerhalb des Deutschen Heeres alle Truppenteile vollzählig und kriegstüchtig vorhanden sind und daß Einheit in der Organisation und Formation, in Bewaffnung und Kommando, in der Ausbildung der Mannschaften, sowie in der Qualifikation der Offiziere hergestellt und erhalten wird. Zu diesem Behuf ist der Kaiser berechtigt, sich jederzeit durch Inspektionen von der Verfassung der einzelnen Kontingente zu überzeugen und die Abstellung der dabei vorgefundenen Mängel anzuordnen.
4) Der Kaiser bestimmt den Präsenzstand,³⁰ die Gliederung und Einteilung der Kontingente des Reichsheeres, sowie die Organisation der Landwehr, und hat das Recht, innerhalb des Bundesgebietes die Garnisonen zu bestimmen, sowie die kriegsbereite Aufstellung eines jeden Teils des Reichsheeres anzuordnen.
5) Behufs Erhaltung der unentbehrlichen Einheit in der Administration, Verpflegung, Bewaffnung und Ausrüstung aller Truppenteile des Deutschen Heeres sind die bezüglichen künftig ergehenden Anordnungen für die Preußische Armee den Kommandeuren der übrigen Kontingente, durch den Artikel 8 Nr. 1 bezeichneten Ausschuß für das Landheer und die Festungen, zur Nachachtung in geeigneter Weise mitzuteilen.
30) Der Kaiser wurde durch die Gesetze zur Feststellung der Friedenspräsenzstärke in dieser Kompetenz eingeschränkt. Siehe Art. 60 Anmerkung 25.
Artikel 64
1) Alle Deutsche Truppen sind verpflichtet, den Befehlen des Kaisers unbedingte Folge zu leisten. Diese Verpflichtung ist in den Fahneneid aufzunehmen.
2) Der Höchstkommendierende eines Kontingents, sowie alle Offiziere, welche Truppen mehr als eines Kontingents befehligen, und alle Festungskommandanten werden von dem Kaiser ernannt. Die von Demselben ernannten Offiziere leisten Ihm den Fahneneid. Bei Generalen und den Generalstellungen versehenden Offizieren innerhalb des Kontingents ist die Ernennung von der jedesmaligen Zustimmung des Kaisers abhängig zu machen.
3) Der Kaiser ist berechtigt, Behufs Versetzung mit oder ohne Beförderung für die von Ihm im Reichsdienste, sei es im Preußischen Heere, oder in anderen Kontingenten zu besetzenden Stellen aus den Offizieren aller Kontingente des Reichsheeres zu wählen.
Artikel 65
Das Recht, Festungen innerhalb des Bundesgebietes anzulegen, steht dem Kaiser zu, welcher die Bewilligung der dazu erforderlichen Mittel, soweit das Ordinarium sie nicht gewährt, nach Abschnitt XII. beantragt.
Artikel 66
1) Wo nicht besondere Konventionen ein Anderes bestimmen, ernennen die Bundesfürsten, beziehentlich die Senate die Offiziere ihrer Kontingente, mit der Einschränkung des Artikels 64. Sie sind Chefs aller ihren Gebieten angehörenden Truppenteile und genießen die damit verbundenen Ehren. Sie haben namentlich das Recht der Inspizierung zu jeder Zeit und erhalten, außer den regelmäßigen Rapporten und Meldungen über vorkommende Veränderungen, Behufs der nötigen landesherrlichen Publikation, rechtzeitige Mitteilung von den die betreffenden Truppenteile berührenden Avancements und Ernennungen.
2) Auch steht ihnen das Recht zu, zu polizeilichen Zwecken nicht bloß ihre eigenen Truppen zu verwenden, sondern auch alle anderen Truppenteile des Reichsheeres, welche in ihren Ländergebieten disloziert sind, zu requirieren.
Artikel 67
Ersparnisse an dem Militäretat fallen unter keinen Umständen einer einzelnen Regierung, sondern jederzeit der Reichskasse zu.
Artikel 68
Der Kaiser kann, wenn die öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiete bedroht ist, einen jeden Teil desselben in Kriegszustand erklären. Bis zum Erlaß eines die Voraussetzungen, die Form der Verkündigung und die Wirkungen einer solchen Erklärung regelnden Reichsgesetzes gelten dafür die Vorschriften des Preußischen Gesetzes vom 4. Juni 1851 (Gesetz.-Samml. für 1851 S. 451 ff.).
Schlußbestimmung zum XI. Abschnitt.
Die in diesem Abschnitt enthaltenen Vorschriften kommen in Bayern nach näherer Bestimmung des Bündnisvertrages vom 23. November 1870 (Bundesgesetzbl. 1871 S. 9) unter III. § 5, in Württemberg nach näherer Bestimmung der Militärkonvention vom 21./25. November 1870 (Bundesgesetzbl. 1870 S. 658) zur Anwendung.
XII. Reichsfinanzen.
Artikel 69
Alle Einnahmen und Ausgaben des Reichs müssen für jedes Jahr veranschlagt und auf den Reichshaushaltsetat gebracht werden. Letzterer wird vor Beginn des Etatsjahres nach folgenden Grundsätzen durch ein Gesetz festgestellt.
Artikel 70
1) Zur Bestreitung aller gemeinschaftlichen Ausgaben dienen zunächst die aus den Zöllen und gemeinsamen Steuern, aus dem Eisenbahn-, Post- und Telegraphenwesen, sowie aus den übrigen Verwaltungszweigen fließenden gemeinschaftlichen Einnahmen. Insoweit die Ausgaben durch diese Einnahmen nicht gedeckt werden, sind sie durch Beiträge der einzelnen Bundesstaaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerung aufzubringen, welche in Höhe des budgetmäßigen Betrages durch den Reichskanzler ausgeschrieben werden. Insoweit diese Beträge in den Überweisungen keine Deckung finden, sind sie den Bundesstaaten am Jahresschluß in dem Maße zu erstatten, als die übrigen ordentlichen Einnahmen des Reichs dessen Bedarf übersteigen.
2) Etwaige Überschüsse aus den Vorjahren dienen, insoweit durch das Gesetz über den Reichshaushaltsetat nicht ein Anderes bestimmt wird, zur Deckung gemeinschaftlicher außerordentlicher Ausgaben.³¹
31) Die vorliegende Fassung erhielt Art. 70 durch Gesetz vom 14. Mai 1904 (RG Bl. S. 169 – 170).
Artikel 71
1) Die gemeinschaftlichen Ausgaben werden in der Regel für ein Jahr bewilligt, können jedoch in besonderen Fällen auch für eine längere Dauer bewilligt werden.
2) Während der im Artikel 60 normierten Übergangszeit ist der nach Titeln geordnete Etat über die Ausgaben für das Heer dem Bundesrate und dem Reichstage nur zur Kenntnisnahme und zur Erinnerung vorzulegen.
Artikel 72
Über die Verwendung aller Einnahmen des Reichs ist durch den Reichskanzler dem Bundesrate und dem Reichstage zur Entlastung jährlich Rechnung zu legen.
Artikel 73
In Fällen eines außerordentlichen Bedürfnisses kann im Wege der Reichsgesetzgebung die Aufnahme einer Anleihe, sowie die Übernahme einer Garantie zu Lasten des Reichs erfolgen.
Schlußbestimmung zum XII. Abschnitt.
Auf die Ausgaben für das Bayerische Heer finden die Artikel 69 und 71 nur nach Maßgabe der in der Schlußbestimmung zum XI. Abschnitt erwähnten Bestimmungen des Vertrages vom 23. November 1870 und der Artikel 72 nur insoweit Anwendung, als dem Bundesrate und dem Reichstage die Überweisung der für das Bayerische Heer erforderlichen Summe an Bayern nachzuweisen ist.
XIII. Schlichtung von Streitigkeiten und Strafbestimmungen.
Artikel 74
Jedes Unternehmen gegen die Existenz, die Integrität, die Sicherheit oder die Verfassung des Deutschen Reichs, endlich die Beleidigung des Bundesrates, des Reichstages, eines Mitgliedes des Bundesrates oder des Reichstages, einer Behörde oder eines öffentlichen Beamten des Reichs, während dieselben in der Ausübung ihres Berufes begriffen sind oder in Beziehung auf ihren Beruf, durch Wort, Schrift, Druck, Zeichen, bildliche oder andere Darstellung, werden in den einzelnen Bundesstaaten beurteilt und bestraft nach Maßgabe der in den letzteren bestehenden oder künftig in Wirksamkeit tretenden Gesetze, nach welchen eine gleiche gegen den einzelnen Bundesstaat, seine Verfassung, seine Kammern oder Stände, seine Kammer- oder Ständemitglieder, seine Behörden und Beamten begangene Handlung zu richten wäre.³²
32) Art. 74 war im wesentlichen schon durch die reichs weite Gültigkeit des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich vom 15.05.1871 (RGBl. S. 127) überholt, das in den § 80 bis 95, 105, 106, 196, 197 und 389 den Schutz des Reichs und seiner Verfassungsorgane detailliert regelt.
Artikel 75
1) Für diejenigen in Artikel 74 bezeichneten Unternehmungen gegen das Deutsche Reich, welche, wenn gegen einen der einzelnen Bundesstaaten gerichtet, als Hochverrat oder Landesverrat zu qualifizieren wären, ist das gemeinschaftliche Ober-Appellationsgericht der drei freien und Hansestädte in Lübeck die zuständige Spruchbehörde in erster und letzter Instanz.
2) Die näheren Bestimmungen über die Zuständigkeit und das Verfahren des Ober-Appellationsgerichts erfolgen im Wege der Reichsgesetzgebung. Bis zum Erlasse eines Reichsgesetzes bewendet es bei der seitherigen Zuständigkeit der Gerichte in den einzelnen Bundesstaaten und den auf das Verfahren dieser Gerichte sich beziehenden Bestimmungen.³³
33) Artikel 75 wurde durch § 136 Ziffer 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Januar 1877 (RG Bl. S. 4) gegenstandslos; mit diesem Gesetz wurde das Reichsgericht [in Leipzig] zuständiges Gericht.
Artikel 76
1) Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesstaaten, sofern dieselben nicht privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten Gerichtsbehörden zu entscheiden sind, werden auf Anrufen des einen Teils von dem Bundesrate erledigt.
2) Verfassungsstreitigkeiten in solchen Bundesstaaten, in deren Verfassung nicht eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt ist, hat auf Anrufen eines Teiles der Bundesrat gütlich auszugleichen oder, wenn das nicht gelingt, im Wege der Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen.
Artikel 77
Wenn in einem Bundesstaate der Fall einer Justizverweigerung eintritt, und auf gesetzlichen Wegen ausreichende Hilfe nicht erlangt werden kann, so liegt dem Bundesrate ob, erwiesene, nach der Verfassung und den bestehenden Gesetzen des betreffenden Bundesstaates zu beurteilende Beschwerden über verweigerte oder gehemmte Rechtspflege anzunehmen, und darauf die gerichtliche Hilfe bei der Bundesregierung, die zu der Beschwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken.
XIV. Allgemeine Bestimmungen.
Artikel 78
1) Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung. Sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrate 14 Stimmen gegen sich haben.
2) Diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit festgestellt sind, können nur mit Zustimmung des berechtigten Bundesstaates abgeändert werden.
Inhaltsverzeichnis
- Verfassung des Deutschen Reichs.
- I. Bundesgebiet.
- II. Reichsgesetzgebung.
- III. Bundesrat.
- IV. Präsidium.
- V. Reichstag.
- VI. Zoll- und Handelswesen.
- VII. Eisenbahnwesen.
- VIII. Post- und Telegraphenwesen.
- IX. Marine und Schiffahrt.
- X. Konsulatwesen.
- XI. Reichskriegswesen.
- XII. Reichsfinanzen.
- XIII. Schlichtung von Streitigkeiten und Strafbestimmungen.
- XIV. Allgemeine Bestimmungen.